Ansätze zum psychologischen Verständnis der Japaner und ihrer Gesellschaft
Andreas von Wallenberg Pachaly
Prolog
Das Problem der in verschiedenen Kulturen wirkenden japanischen Konzerne beinhaltet:
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Deutschland ist eine neue Welt nicht ein neuer Zweig.
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Global Organizations, d.h. die Konzernzentrale, müssen “den jeweiligen lokalen Bedingungen entsprechend“ den lokalen Niederlassungen Dünger, Nahrung etc. zur Verfügung stellen.
Dabei stellen sich für die Konzernleitung und die „Zweigstellenleitungen“ neue Aufgaben:
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a) Die Zweigstellenleitung muß durch Dezentralisierung der Konzernleitung ein Insider des örtlichen Marktes werden und die Hauptkonzernzentrale behält gleiche Distanz zu allen lokalen Märkten. DieTopmanager der Konzernleitung schwärmen im günstigen Falle aus, wo sie am meisten gebraucht werden und sitzen nicht zu Hause und empfangen Besuch der Zweigstellenleitung.
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b) Es gibt also regionale Hauptquartiere und eine Konzernzentrale.
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c) Dabei ist es das oberste Gebot und die wichtigste Aufgabe, daß unsichtbare Bande die Identität zusammenhalten. Ein gemeinsammes Wertesystem gilt als der wirksamste Klebstoff. Dies muß den Klebstoff des „Nationalismus“ oder den einer extrem kurzsichtigen überspitzten „shareholder value“ Konzentrierung ersetzen.
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d) Gemeinsame von Konzernzentrale und allen regionalen Hauptquartieren geteilte Visionen und Werte sind entscheidend ob dies gelingt oder nicht.
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e) Zeit ist nötig um in die lokale Kultur einzudringen und Fuß zu fassen. Scheckbuchmentalität und politischer protektionistischer Druck funktioniert nicht.
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f) Es gilt die Werte der Firma zu definieren und zu vermitteln und es gilt die Werte der regionalen Kultur wahrzunehmen, zu schätzen und jenseits dessen gemeinsamen Grund zu eröffnen.
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g) Es gilt ein Netzwerk regionaler Organisationen aufzubauen
Lokale Interessen und Engagement und gleichzeitig ein kräftiges Set von transnationalen Werten sind die Zutaten, welche internationale Konzerne zu erfolgreichen „global players“ machen.
Um nun ein in diesem Zusammenhang wichtiges Verständnis einer fremden Kultur zu erarbeiten benötigen wir:
a), ein Wissen um die Mythen einer Kultur, als Ausdruck einer gemeinsamen Einstellung den Menschen und Beziehungen gegenüber,
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b) ein Persönlichkeitsmodel, um den Einzelnen zu verstehen und
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c) ein Gruppenmodel um ein Verständnis gruppendynamischer Prozesse erarbeiten zu können!
Einleitung
Ruth Benedikt und ihren Untersuchungen haben wir es wahrscheinlich zu verdanken, daß Kyoto nicht bombadiert wurde oder gar Ziel des atomaren Überfalls wurde. Daraus mag die Bedeutsamkeit einer anthropologisch-psychologischen Beschäftigung mit der Kultur eines Landes abgeleitet werden zu dem man wie auch immer geartete Beziehungen unterhält.
Es ist den meisten von uns klar, daß die Bandbreite menschlichen Seins innerhalb einer Gesellschaft größer ist, als zwischen den Gesellschaften, aber was ich hier versuchen werde darzustellen, ist eine Gesamtheit eines Beziehungsmusters wo viele auch in unserer Kultur anzutreffende Charakteristika in einer ganz spezifischen Konfiguration miteinander in Wechselwirkung stehen.
Ich kann auch mit Fug und Recht sagen, daß wir auf dem Gebiet der Japanologie ein hoffnungslos zurückliegendes Entwicklungsland sind, wenn wir betrachten wieviele hunderttausende von Japanern nun schon über Generationen sich intensiv des Studiums des Westens gewidmet haben.
Denn, gilt es bei einer Begegnung nicht immer den anderen da abzuholen, wo er steht und nur kann eine Begegnung im tieferen Sinne stattfinden. Nun ich hoffe mir gelingt dies heute mit Ihnen.
Ich kann Sie auch gleich warnen, daß meine Analyse eine recht konservative Analyse ist, obwohl ich mich selbst nicht unbedingt als solcher einordnen würde, aber als Psychoanalytiker fühle ich mich historischen Einflüssen wohl näher als Modeerscheinungen.
Nach dem Vortrag wissen Sie auf alle Fälle mehr über mich, da jeder Versuch eines Verständnisses wohl nicht von der verstehenden Person abzuspalten ist. Und der Blick auf eine andere Kultur immer auch ein Blick in den Spielgel der eigenen Kultur ist.
Die Natur des Menschen im Mythos
Ich möchte meinen Versuch eines psychologischen Verständnisses der Japaner beginnen mit einer Betrachtung der frühen japanischen Mythen, über die Natur der Welt und die Rolle des Menschen darin. Einflüsse auf die Psychologie der Japaner können wir aus dem Ur-Japan, Shintoismus, aus dem Buddhismus und der Chinesischen Philosophie und Ethik und aus dem Westen ausmachen. Hier möchte ich mich auf die Ur-Mythologie beschränken, da sie das Ur-Japanische m.E. am deutlichsten verkörpert. Sind doch das Kaisertum und der Shintoismus darin enthalten.
Grundlage dieser Analyse sind der Kojiki (712, geschrieben in Umgangsjapanisch) und der Nihongi (720, in Chinesisch geschrieben). Sie wurde von dem Harvard Professor für Anthroplogie (Pelzel) ausgeführt.
Die Chinesische Literatur ist rational, intellektualisiert und didaktisch aufgebaut. Chinesische Literatur hat Vertrauen in bewußte Moral und sagt wie der Mensch in bestimmten Lebensbereichen sein soll. Die japanische Literatur hingegen hat Vertrauen in die menschliche Intuition und beschreibt umfassend seine gesamte Existenz, wie er sie führt.
Die Schöpfungsgeschichte
In der Japanischen Schöpfungsgeschichte sind Izanagi und Izanami die Schöpfungsgötter, denen mehrere Götterpaare, einzelne Götter und das Chaos voraus ging (reed shot). Ursprung ist eine „signified exegesis“, ein vereinter Körper, der aus einem ursprünglichen Chaos kam, wie ein Ei welches aus diffusen Grenzen und Spermen besteht.
Sexuelle Reproduktion wurde erfunden, begleitet von einem Hochzeitsritus. Sie schufen viele Götter identifizierbar mit den Bergen, dem Meer, etc. . Daraus entstanden direkt die Vorfahren des Kaisers. Susanoo, Bruder der Sonnengottheit stieg herab zu dem historischen Ort Izumo, wo sich heute noch der Shrine befindet. Der Enkel der Sonnengöttin, ninigi no mikoto begab sich endgültig auf die Erde und beherrschte sie, nachdem die anderen Götter sie wohnbar gemacht hatten. Als erstes hatte er nichts Besseres zu tun als mit einem hübschen Mädchen zu schlafen, da er sich aber weigerte mit ihrer häßlichen älteren Schwester zu schlafen, wurde er aufgrund dieses Mangels an Barmherzigkeit sterblich.
Einer der Enkel, Sohn des jüngeren Sohn von Ninigi no mikoto “ Jimmu Tennoo“ ging als Gründungskaiser in die Annalen der kaiserlichen Familie ein.
Bis hierher geht der mythologische Teil des Kojiki und Nihongi, obwohl viel von dem was folgt auch noch in das Reich der Fabeln gehört.
Die Götter und ihre Welt
Regiert wurde von einem Herrscher, der wenig mehr repräsentierte als den gemeinsamen Willen, der bei Stadtversammlungen gefunden wurde. Die Götter fühlten die selben Leiden und Freuden wie die Menschen und zeigen ähnliche Fähigkeiten wie Menschen.
Abstammungsmäßig können sich alle Japaner auf ihre Herkunft von den Göttern beziehen, einige Adelige auch auf bestimmte Göttergeschwister. Die japanische Mythologie beinhaltet wenig Metaphysik und betont die Dinge dieser Welt. Die göttlichen Eigenschaften und Spitzfindigkeiten einer so menschlichen Mythologie wie die der Griechen, mit z.B. Zeus dem Donnergott, Hera der Göttin der Fruchtbarkeit und Eifersucht heben keine Entsprechung in der japanischen Mythologie, wo Götter einen sanften und sozialen Charakter haben und Ereignisse einen fast heimeligen Verlauf nehmen. Sie haben eine sanfte Qualität, ohne Chaos und Angst vor Terror oder von Ekstase auf der anderen Seite.
In der japanischen Mythologie ist die Welt gut, mit strengen Tabus alles was den Tod betraf. Sie glauben in die Fortdauer des Lebens und in Hoffnung, gegenüber dem später importierten Glauben, daß Leben Leiden ist und sein Ende gesucht werden sollte.
In der japanischen Wertewelt gab es kein Gut-Böse, sondern nur die Zustände, die wir eben auf dieser Erde vorfinden, der Dualismus ist bedeutungslos, die Zustände sind, im Sinne des Existierens; man begegnet sich zufällig.
Ereignisse, Zustände sind bewertet, ob sie menschliches Leben fördern oder beeinträchtigen. Der Zustand des Sein ist gleich dem Zustand des Beseelt-Seins, gegenüber einem unpersönlichen oder willenlosen Zustand.
Die Welt der Natur
Die Welt der Natur hat Leben und besitzt Willen, beide sind mit dem des Menschen fast identisch. Wie Susanoo benützen sie dies auch zu unsozialen Zielen. Die Errungenschaften der Helden war nicht die Schaffung von Artefakten, um etwa Sümpfe trocken zu legen, wie bei den Chinesen, sondern die Natur zu zivilisieren und ärgerlich, mühsame Eigenschaften wie Sprache, Beweglichkeit und Gewalt zu entfernen ( Felsen haben gebrüllt ).
Die Mythen sind erfüllt mit Wertschätzungen der Flora, der landschaftlichen Reize Japans und die Botschaft ist, daß diese Welt eine harmonische Einheit des menschlichen Lebens mit der Natur ist. Eine kameradschaftliche Sensibilität der Natur gegenüber.
Ziele der Menschen
Das unbewußt akzeptierte Ziel der Menschen ist es, mit den alltäglichen materiellen Problemen des täglichen Lebens zurecht zu kommen. Menschen und Götter sind nicht durch einen unüberbrückbaren Graben getrennt. Das grundlegendste Element jeden Menschen ist der Geist, der Teil der Göttlichkeit der in jedem Japaner ruht (yamato no tamashii), der von einem gemeinsamen Ursprung herkommt und somit alle Japaner vereint, und mit allen anderen Dingen in der Welt (:vereint in Christi).
Dies hatte natürlich später zur Folge als Japaner mit Nicht-Japanern, für die keine göttliche Abstammung in Anspruch genommen werden konnte, diesen sogar unmenschlichen Charakter zuwiesen.
In der japanischen Mythologie sind die Götter alle wie Mitglieder einer Familie gezeichnet, aber sehr wohl mit bestimmten charakteristischen Eigenschaften.
Gefühle, die beschrieben sind, sind Liebe für den anderen, ohne Hintergedanken, als die am weitesten verbreitete Eigenschaft und Liebe für sich selbst.
Sexualität
Unkomplizierte Anziehung ist häufig beschrieben, nachdem sich ein Mann und eine Frau zum ersten Mal gesehen haben und sich attraktiv finden, gehen sie miteinander ins Bett. Und seitens der Frauen sind wenige Verweigerungen bekannt, es ist eine gemeinsame von Gegenseitigkeit getragene Sache. Chamberlain sah sich deswegen im viktorianischen England genötigt, ganze Passagen des Kojiki ins lateinische zu übersetzen. Ablehnungen werden ausgesprochen, aus dem Grund, weil der andere nicht attraktiv gefunden wird, was aber als unmoralisch gesehen wird, da ja bekanntlich der Kaiser sterblich wurde, da er die häßlichere Schwester verschmähte.
Offensichtlich müssen sexuelle Beziehungen nicht von der Gesellschaft beurteilt werden und sind immer gut, dies ging bei historischen Generationen von Japanern soweit, daß Inzest als gut beschrieben wurde. Dieses Verständnis, daß sexuelle Liebe aus dem Herzen des Menschen entspringen sollte und bedingungslos gut ist, hat sich wohl bis heute gehalten, erst durch chinesischen Einfluß in den oberen Schichten in der Tokugawa Periode wurde sexuelle Liebe der Ehe unterstellt und diese der arrangierten Ehe-Familienpolitik.
Harmonie und Moralität
Aber es ist in den Mythen nicht nur sexuelle Liebe beschrieben, sondern auch die liebevolle Fürsorge für den anderen. Harmonie wird nicht in erster Linie hergestellt durch seine Gegenseitigkeit der Rechte sondern der Rücksichtnahme auf Sensibilitäten, das ständige daran arbeiten an einer Gegenseitigkeit auf diesen Sensibilitäten.
Die Japaner haben ein Interesse an Moralität, in dem Maße wie jemand emotionales Kommittment zeigt und nicht in Form von sich moralischen Prinzipien unterwerfen. Unmoralisch ist ein Egoist, der andere erschrickt oder ein emotionaler Krüppel.
Er zeigt keine Fähigkeit Rücksicht und Nachsicht zu zeigen. Moral liegt im Geben totaler Sympathie für einen Menschen, nicht darin, ihm Recht zu gewähren, sondern menschliche Erfüllung.
Japan wurde als eine Scham-Kultur beschrieben, wo der Japaner, wenn er fehlt, ausgelacht wird, was für uns und die Chinesen sehr harmlos und sanft wirken mag, aber für sie nichts desto trotz vernichtend sein. Falls er sich schwer vergeht, wird er verstoßen und materielle Unterstützung zurückgezogen.
Jedoch ist die größere Motivation, positive Beachtung und Rücksichtnahme zu finden und nicht die Furcht, sie zu verlieren. Die Absicht ist höher bewertet als die tatsächliche Tat. Allerdings, wenn man betrunken ist, geht der Teil des Gehirns, der für die Moral zuständig ist auf Urlaub und dies wird als gut betrachtet und gerne vergessen. Moral ist nicht nur nicht aushalten zu können, wie der andere leidet, sondern ihm Freude zu wünschen. Die Betonung des japanischen Justitzsystems ist logischerweise auch weniger darauf ausgerichtet, ob ein Verbrechen begangen wurde, sondern ob der Täter Reue und Selbsterkenntnis zeigt (Unfall, Krankenhausbesuch). Gut ist, was gut beabsichtigt war, nicht was gute Folgen hat.
Es besteht viel Vertrauen in die menschliche Intuition, bewertet werden Ereignisse, ob sie Leben fördern oder verhindern.
Buschido
Militär-Ritter-Weg (bushido) nichtgeschriebene moralische Vorschriften und Ideale (englische Konstitution)
Buddhismus = ruhiges Vertrauen in sein Schicksal, Unterwerfung in das Unausweichliche, stoische Haltung angesichts der Katastrophe, wo die Kunst des Schwertes aufhört beginnt Zen. Zen stellt das menschliche Bestreben dar, durch Meditation in Sphären vorzudringen, welche jenseits verbaler Ausdrucksfähigkeit sind. Sich mit dem Absoluten in Einklang zu bringen.
Shintoismus Loyalität zum Herrscher, den Vorvätern, den Vätern. Shintoismus hat keinen Platz für die Erbsünde, es glaubt an das angeborene Gute im Menschen, an die göttliche Reinheit der Seele. Naturanbetung heiliger Orte der Götter, Vorfahrenanbetung, Verehrung des Kaisers, ist die körperliche Repräsentanz auf Erden.
Ethik leitete sich von den Lehren Konfuzius ab und seinen fünf moralischen Beziehungsvorschriften: Herr-Diener, Mann-Frau, Vater-Sohn, älterer-jüngerer Bruder, Freund-Freund.
Mencius, Wang-Yang-Ming: „Wissen und handeln sind ein und das selbe“
Selbstkontrolle, Selbstmord, das Schwert, Höflichkeit, die Pflicht der Loyalität, Ehre, Aufrichtigkeit und „veracity“. Courage, wagen und ertragen.
Ehre, Scham aus dem Weg zu gehen und einen Namen zu gewinnen.
Samurai konnten Felder bestellen, waren aber keine Händler, welche reiche werden konnten.
Der Untergang des Römischen Reiches ging damit einher, daß wenige Senatoren, welche die politische Macht hatten, auch reich werden konnten.
Feudale Herrscher fühlten eine Verantwortung den Vorfahren und dem Himmel gegenüber. Wohlwollende Güte, Erbarmen verbunden mit Gerechtigkeit. (Bushi no nasake = das weiche mitfühlende Gefühl, Zartheit des Ritters) Dichtkunst und Liebe zur Musik sind auch mit Bushido verbunden.
Frauen geben sich zum Wohl ihrer Söhne und Männer auf, wie die Männer für das Wohl ihrer Herren und ihres Landes, diese Gott gegenüber.
Bushidoo, yamatodamashii = Religion, emotional gefärbte Moral
Der Antrieb Japan zu verändern kam von den Japanern. Es wurde nicht umgemodelt oder kolonisiert. Finanzielle oder industrielle Motive waren sekundär. Die Unfähigkeit, auf sich als eine unterlegene Macht herabzublicken, dieses Gefühl für die eigene Ehre, war die das treibende Motiv zur Modernisierung Japans.
Bushido bewirkte auch negative Konsequenzen, keine tiefschürfenden, metaphysischen Gedanken, Philosophien, übertriebene Empfindlichkeit und Verletzlichkeit, Verrat.
Bushido ohne Feudalismus ist wie eine Weise. Weder Militarismus noch Shintoismus konnten ihn retten. Bushido betonte das moralische Verhalten von Führern und öffentliche Personen.
Fallbeispiel:
Eines Tages starb der Inhaber eines kleinen Kramladens, der sich in Tokyo in meiner Nachbarschaft befand. Ich hatte ihn gut gekannt, war er doch manchmal zu einem Plauderstündchen des Abends zu mir gekommen. Außerdem war ich seiner Familie verpflichtet, denn meine Haushaltshilfe pflegte, meine europäische Badewanne verachtend, am Abend ihr heißes japanisches Bad in ihrem Häuschen zu nehmen. Es ist in Japan im allgemeinen üblich, bei Todesfällen der trauernden Familie eine kleine Geldsumme zu übergeben. Nachdem ich mich sorgfältig mit meiner Hausgehilfin über die Höhe der Summe, die für mich angebracht war, beraten hatte, machte ich meinen Kondolenzbesuch und legte das Geld in einem Couvert auf das Tischchen, das neben der Leiche des alten Mannes stand. Zwei bis drei Monate später erhielt ich von der Witwe eine sehr große Kiste mit Seife (aus ihrem Kramladen natürlich). Der Wert mag ungefähr der Hälfte der von mir übergebenen Summe entsprochen haben. Natürlich war ich gerührt, dachte aber unwillkürlich, so genau hätte sie doch nicht „aufrechnen“ müssen.
Es ist übrigens eine schöne Sitte, bei Todesfällen mit Geld beizustehen. Denn anläßlich der Trauerfeierlichkeiten gibt es ja immer ungewöhnliche Ausgaben. Auch wenn Häuser abbrennen, stellen Nachbarn und Freunde den Betroffenen oftmals unaufgefordert Geld zur Verfügung. So denkt man in Japan immer an den Mitmenschen, falls man als Nachbar, Freund oder Anverwandte in einer bestimmten Beziehung zu ihm steht.
Bei den Beispielen, die ich anführte, handelt es sich um Erfahrungen aus den siebziger Jahren, also nicht um alte Geschichten. Trotzdem sind sie nicht mehr allgemein und unbedingt gültig. In den Großstädten sind die Dinge nicht mehr so reglementiert, besonders bei der jüngeren Generation. Aber dennoch ist die Anerkennung der Verpflichtungen und das Gefühl der Dankbarkeit in Japan auch heute ausgesprochener als im Westen. Und es wird, da die Japaner nun einmal die Hauptaufmerksamkeit den „menschlichen Verknüpfungen“ widmen, bestimmt auch so bleiben.
Nachdem der Einfluß des Nipponismus auf das gesellschaftliche Leben skizziert wurde, soll nun die, wie man meinen könnte, fundamentale Frage nach dem Verhältnis des Nipponismus zur Religion aufgegriffen werden. Für die Japaner ist die Frage aber gar nicht so fundamental, denn der Nipponismus ist auf alle Fälle die Grundlage von allem. Die Religionen spielen die zweite Geige.
Die Japaner und die Juden
In Japan ist anfangs der 70er Jahre ein Buch erschienen, dessen englische Ausgabe mit „The Japanese and the Jews“ betitelt ist und dessen japanische Originalausgabe ein ganzes Jahr lang auf der Bestsellerliste stand3.
Der Autor, der sich Isaiah Ben-Dasan nennt und vorgibt, ein Jude zu sein, stellt darin unter anderem die kühne, Behauptung auf der Nipponismus sei eine Religion und wie alle Religionen in verschiedene Richtungen oder Sekten zerfallen. Heute bestünden folgende Hauptrichtungen: Die Soka Gakkai (Nichirenbuddistisch), die christliche, die marxistische und die humanistisch-kapitalistische (repräsentiert durch den Slogan „Frieden und Glück durch den Wohlstand“). Wenn man zunächst einmal die Frage, ob Nipponismus eine Religion sein, beiseite läßt, ist zuzugeben, daß der Autor, wenn auch mit krassen Worten, die Wahrheit sagt. Viele Autoren haben sich mit dieser Frage beschäftigt und darauf hingewiesen, daß die Religionen in Japan keine entscheidende Rolle spielen. Wieder sei auf das gelehrte Werk von Hajime Nakamura verwiesen, der darstellt, wie der Buddhismus japanisiert, das heißt, im Sinne dieses Buches nipponisiert wurde4. Ben-Dasan hat bei seiner Aufzählung der Hauptrichtung der „nipponistischen Religion“ den Shintoismus nicht erwähnt. Das erklärt sich aus den heutigen Verhältnissen, denn der Shintoismus als Religion ist heute nur noch in wenigen Sekten lebendig.
In der Vorkriegszeit hielten wir Nipponismus und Shintoismus beinahe für identisch. Dies war vielleicht insofern verständlich, als sich damals eine das Shintoistische oder angeblich Shintoistische hochspielende Propaganda mit großer Wucht auf uns ergoß. Es war nicht nur die staatliche Propaganda, vielmehr haben zahlreiche Autoren in gelehrten Schriften im gleichen Sinne geschrieben. So schrieb Dr. Murakami, der 1934 ein Buch in deutscher Sprache veröffentlicht hat: „Die enge Beziehung von Untertanentreue und Kindespflicht stammt direkt aus der Eigenart des japanischen Staatsgebildes. Das kann man bei anderen Völkern nicht finden. Dessen ungeachtet ist der kaiserliche Wille nichts anderes als eine notwendige Forderung der vernünftigen Natur des Menschen. Es ist eine sittliche Forderung, die allen Völkern gemeinsam sein sollte5.“ Und ein anderer Schriftsteller schrieb 1936, daß der Kaiser vielleicht der Weltzivilisation eine neue Richtung geben werde6.
Indessen meinten wir damals nicht den Shintoismus als Religion, sondern den shintoistischen Geist. Es sei daran erinnert, daß manchmal bezweifelt wird, ob der Shintoismus überhaupt als Religion zu betrachten sei. Es gibt nämlich keine heiligen shintoistischen Bücher (es sei denn, man betrachte die alten japanischen „Geschichtswerke“ mit ihrer Mythologie als solche) und auch keine shintoistischen Dogmen. Darin ist er allerdings dem Nipponsismus ähnlich! Dennoch haben wir uns, wenn wir an den shintoistischen Geist dachten, damals in gewisser Weise geirrt. Wir nahmen an, daß der Kaiserkult in seiner damaligen Form und die Ahnenverehrung wesentliche Bestandteile des Nipponismus seien. Das ist nicht richtig. Über die Position des Kaisers werden wir noch sprechen. Unverändert geblieben ist das Gefühl der Einzigartigkeit und ein gewisser Sendungsglaube.
Man muß wissen, daß es vor dem Kriege zwei Arten von Shintoismus gab, den staatlichen und den Sekten-Shintoismus. Der Shintoismus als „Staatsdienst“ war eine so typische japanische Erfindung, daß er erwähnt werden muß. Als die Regierung begann, shintoistische Verhaltensregeln anzuordnen, gab es Schwierigkeiten mit den anderen Religionen, besonders mit den Christen. Manche japanische Christen lehnten es ab, sich tief vor dem Kaiserbildnis (als ob der Tenno tatsächlich ein Abkömmling der Götter wäre) und vor den nationalen Shintoschreinen zu verneigen oder ihren Zöglingen die Schöpfung Japans durch die Götter (als einzig wahre Weltschöpfungsgeschichte) darzubieten. Mit den Buddhisten gab es ebenfalls, jedoch weniger Auseinandersetzungen. Der Buddhismus war ja schon längst und bedeutend intensiver nipponisiert als das Christentum. Auch besaßen die christlichen Missionare einen gewissen Einfluß und Rückhalt in der in diesem Zusammenhang für Japan abträglichen Meinung der westlichen Welt. Kurz – die Regierung behalf sich damit, daß sie erklärte, der staatliche Shintoismus sei keine Religion sondern Staatsdienst. Wieder so eine komplizierte japanische Angelegenheit: Die Regierung erklärte, daß die eigene angestammte Religion keine Religion sei.
Hier wurde deutlich, daß es für die Japaner etwas Höheres gibt als die Religionen, etwas, dem sich die Religionen unterordnen müssen. Dennoch war die Art, wie dies diesmal zum Ausdruck kam, sozusagen unnipponistisch. Nie sind in der japanischen Geschichte derart absolute und genaue Anweisungen, nie dem Volke solche nationalen Vorschriften gegeben worden. Der Nipponismus, wir wiederholen es, ist ein vages Grundgefühl kein Dogma. Es handelte sich also um einen verzerrten Nipponismus. Vielleicht war dabei ein westliche Einfluß (Nationalsozialismus und Faschismus) wirksam. Nach dem Kriege wurde auf amerikanische Veranlassung der Staatsshintoismus abgeschafft. Wahrscheinlich hätten die Japaner dies auch von sich aus getan. Inzwischen sind aber Bräuche, die aus der shintoistischen Tradition hervorgegangen sind und die sich vor dem Kriege der Staatsshintoismus einverleibt hatte, wieder lebendig geworden. Dies ging teils von der Regierung, teils vom Volke aus. Die konservative Regierung sorgte für die Wiedereinführung des Reichsgründungstages (siehe S. 33). Das Volk strömte von sich aus an besonderen Tagen zum Schrein des Kaisers Meiji, zum Yasukuni-Jinja (Schrein für die gefallenen Soldaten) und zu anderen nationalen Heiligtümern. Die neu erkorenen Regierungschefs – einschließlich erstmals der Premierminister Tanaka – pilgern schon seit Jahren zu den Großschreinen von Ise (Heiligtum der Sonnengöttin), um der Ahnin des Kaiserhauses ihren Amtsantritt zu melden. Ja, sogar führende linkssozialistische Funktionäre haben sich nach Ise begeben, um dort ihren Respekt zu erweisen.
Dies alles geschieht freiwillig, ohne jeden Druck oder Zwang. Deshalb ist es echt nipponistisch. Die Menschen handeln aus ihrem Gefühl heraus. Sie wären höchst erstaunt, wenn man sie deswegen als Shintoisten bezeichnen würde. Sie pflegen alte Sitten und Bräuche, die zu ihrem nationalen Dasein gehören.
Rasch ein paar Worte über den Sekten-Shintoismus. Es sind religiöse Gruppen, die so recht im 19. Jahrhundert aufgekommen sind, in jener Zeit also, als die nationale Selbstbesinnung und Erneuerung wirksam war. Diese Sekten vertreten verschiedenartige Überlieferungen und Richtungen. Sie hatten zwar eine gewisse, wenn auch keine entscheidende Bedeutung. Heute spielen diese Sekten, einschließlich der nach dem Kriege neugegründeten, eine ziemlich nebensächliche Rolle.
Wer meint, hiermit sei das Thema Shintoismus abgeschlossen, irrt sich. Die weitaus meisten Japaner bezeichnen sich zwar nicht als Shintoisten, aber allesamt hängen sie shintoistischen Riten an. Hochzeiten, Richtfeste, das Pflanzen des ersten Reises und anderes mehr werden stets mit shintoistischem Zeremoniell durchgeführt, auch von den Anhängern buddhistischer Sekten. Hingegen werden die Trauerfeiern sämtlicher Japaner auf buddhistische Weise zelebriert. Der Buddhismus weiß eben, einfach ausgedrückt, besser mit dem Sterben und der menschlichen Seele Bescheid.
Mit dieser japanischen Einstellung der Religionen gegenüber hängt es zusammen, daß die japanische Religionsstatistik, jedenfalls für uns, zu erstaunlichen Resultaten kommt. Im Jahre 1969 oder 1970 gab es in Japan laut der offiziellen Statistik 79 Millionen Shintoisten und 79 Millionen Buddhisten. Japan hatte aber nur 100 Millionen Einwohner. Viele Japaner bezeichnen sich gleichzeitig als Shintoisten wie als Buddhisten.
Das Zeremoniell ist in Japan bei sehr vielen Gelegenheiten von hoher Bedeutung. Es ist nicht so relevant, was man glaubt oder was man sich bei Hochzeits- oder Trauerfeierlichkeiten denkt. Das Wichtigste ist, daß die Riten korrekt und mit Anstand vollzogen werden. Hier haben wir „die menschliche Verknüpfung“ im erweiterten Sinne. Die Verknüpfung erstreckte sich, jedenfalls bis vor kurzem, auch auf die Toten, die Ahnen und die Götter. Selbst der Verkehr mit diesen war genau geregelt.
Ist der Nipponismus nun eine Religion, wie der scharf zupackende Bestseller-Autor Ben-Dasan behauptet? Daß er mit seinen verschiedenen Thesen die Japaner innerlich getroffen und nachdenklich gestimmt hat, ist keine Frage. Denn sonst hätte er nicht einen solchen Riesenerfolg gehabt. In Japan ist infolge seines ausgezeichneten japanischen Stils und seiner Kenntnis der Japaner stark daran gezweifelt worden, daß er, wie er behauptet, ein Jude ist. Er sei wahrscheinlich ein Japaner. Es lohnt sich wohl, sich mit den Aussagen eines Autors zu beschäftigen, den die Japaner für einen so profunden Japankenner halten.
Ich empfinde es als absurd, den Nipponismus als eine Religion zu bezeichnen. Vielleicht hat es Ben-Dasan auch nur getan, um die Japaner aufzuschrecken und um ihnen mit einer neuen Formulierung klarzumachen, daß sie doch eigentlich recht eigentümliche Menschen seien.
Wenn man das japanische Wesen erörtern will, sollte man zunächst einmal Begriffe wie Religion, Philosophie und Weltanschauung vergessen. Diese Begriffe sind in Japan und teilweise auch in China nicht sehr scharf voneinander getrennt. Erinnern wir uns daran, daß von westlicher Seite manchmal erklärt wird, der Buddhismus sei keine Religion, sondern eine Philosophie. Andererseits wird oftmals der Konfuzianismus als Religion bezeichnet, was er meiner Ansicht nach bestimmt nicht ist. Unsere Begriffe lassen sich nun einmal nicht immer auf ostasiatische Verhältnisse anwenden. Vielleicht läßt sich sagen, daß der Nipponismus eine Weltanschauung sei. Aber das ist auch nicht ganz treffend, weil er so stark mit Emotionen durchtränkt ist.
Selbst der Shintoismus wird, wie erwähnt, oftmals nicht als Religion betrachtet, da er keine heiligen Bücher und kein Dogma besitzt. Demnach wäre der Nippomismus erst recht keine Religion, gibt es in seinem Namen nicht einmal Schreine oder Riten. Das soll eine Religion sein, wenn einer sagt „Ich glaube an die Einzigartigkeit Japans“ oder wenn einer meint „Die Harmonie ist das Wichtigste“? Im übrigen hat sich der Nipponismus auf nichts festgelegt. Die Nipponisten – und alle Japaner sind Nipponisten, ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht – akzeptieren sozusagen alle Religionen und dazu noch marxistische, kapitalistische oder sonstige Ideologien. Das soll eine Religion sein? Unser Sprachgebrauch und unser Sprachgefühle sträuben sich gegen diese Benennung. Deshalb soll man ruhig zugeben, daß der Nipponismus etwas Besonders ist, das sich mit unseren gewohnten Begriffen kaum determinieren läßt. Natürlich lassen sich abgedroschene Ausdrücke wie „die Seele Japans“, der „Geist Japans“ oder „das japanische Wesen“ heranziehen. Aber dadurch wird auch nichts deutlicher.
Da die Religionen in Japan nicht allein bestimmend sind, mag man sich fragen, wie es mit der Religiosität der Japaner bestellt ist. Tatsächlich ist diese Frage oft aufgeworfen worden. Es gibt Autoren, japanische und ausländische, die schlankweg erklären, daß die Japaner kein religiöses Volk seien. Andere wieder, besonders japanische Buddhisten, halten sie für tief religiös. Vielleicht mag es müßig sein, über so heikle Fragen zu diskutieren. Immerhin dürfte wohl die Feststellung gewagt werden, daß die Japaner weniger religiös sind als die Inder, aber religiöse als die Christen. Meiner Ansicht nach sind die Japaner ein recht religiöses Volk. Dabei dürfen aber Wandlungen der Zeiten nicht übersehen werden. Lange Zeit war das Inselvolk sehr weitgehend vom Buddhismus ergriffen, aber in den letzten Jahrhunderten änderte sich das. Und heute ist die Einstellung überwiegend weltlich und wenig religiös. Bei uns im Westen ist die Entwicklung ja ähnlich verlaufen.
Aber trotzdem besteht ein Unterschied zu Japan. Bei dem an und für sich religiös veranlagten Inselvolke haben die Religionen es nicht vermocht, ein von Anbeginn an vorhandenes Grundgefühl zu verdrängen oder zu überspielen. Manche Gefühle, die anderswo mehr oder weniger von den Religionen aufgesaugt wurden, sind mit all ihrer Innigkeit im Nipponismus verblieben. Es ist bezeichnend, daß die Japaner seit Jahrhunderten Witze – und zwar oft sehr beißende – über den Buddhismus und die buddhistischen Bonzen und über das Christentum gemacht haben, aber nie über ihre angestammten, ihre shintoistischen Götter. Denn das hätte das shintoistische Grundgefühl berührt7.
Verwandt mit der Frage der Religiosität ist diejenige der Toleranz. Meistens heißt es – und auch auf japanischer Seite wird dies gern betont -, die Japaner seien tolerant. Natürlich sind die Japaner, soviel mag sich aus dem bisher Gesagtem längst ergeben haben, religiös und ideologisch duldsam und weitherzig. Aber nur insofern der Nipponismus davon nicht betroffen wird. In diesem Zusammenhang sei Max Weber erwähnt, welcher der Meinung war, in Japan habe der Staat dem Buddhismus gegenüber nicht die Rolle eines Schutzpatrons, sondern einer Religionspolizei gespielt8. Dies stimmt jedenfalls für spätere Jahrhunderte. So wurden in der Tokugawa-Zeit die buddhistischen Tempel und Klöster eigentlich nur noch dazu benützt, die Regierung darin zu unterstützen, noch den allerletzten Christen in Japan auszurotten. Das Vorhandensein einer „Religionspolizei“ läßt sich gewiß nicht mit Toleranz vereinigen.
Der Buddhismus hat in Japan nie stark gestört, weil er sich anpaßte. Viele Buddhisten wollten einst nicht nur das japanische Volk bekehren, sondern auch seine Götter, andere machten Buddhas und Bodhisattvas aus ihnen. Einer behauptete, die Bodhisattvas seien nur dazu da, dem japanischen Kaisershaus zu dienen. Der erwähnte Sektengründer Nichiren erklärte, alle Götter Japans verehrten die Lotus-Sutra. Die Buddhisten wandten sich nicht gegen die Ahnenverehrung, sie haben diese mitsamt den patriarchalischen Tendenzen in Japan übernommen. (Die kleinen häuslichen Ahnenschreine der gewöhnlichen Japaner sind buddhistisch, nicht shintoistisch.) Der Buddhismus verschmolz sich schließlich sogar mit dem Shintoismus, und in vielen Shintoschreinen walteten buddhistische Bonzen. Dagegen wandten sich in der Tokugawa-Zeit die japanischen Erneuerer. Sie traten für eine saubere Trennung ein. Dementsprechend wurde dann nach der Meiji-Restauration (1868) angeordnet, daß eine Heiligtum entweder dem Buddhismus oder dem Shintoismus zu dienen habe. Einzig und allein die Großschreine von Ise, die seit ungefähr 2000 Jahren bestehen (Holzbauten die alle 20 Jahre abgerissen und erneuert werden!).
Die Persönlichkeit des Japaners
Kindererziehung in Japan in den ersten Monaten
Die japanische Mutter lullt mehr mit ihrem Baby, während die amerikanische Mutter mehr spricht. Mit 3-4 Monaten können schon deutliche Unterschiede festgestellt erden. Das amerikanische vokalisiert mehr und macht glücklichere Töne. Amerikanische Mütter verhalten sich lebhafter, vokalisieren mehr, auch wenn das Baby Töne von sich gibt.
Die japanische Mutter trägt, schaukelt und lullt ihr Baby öfter in den Schlaf. Es wacht öfter auf, wenn es hingelegt wird und wieder aufwacht. Die japanische Mutter antwortet langsamer auf vokale Äußerungen des Babys. Die Bedeutung und der kommunikative Wert des physischen Kontaktes ist mehr betont.
Insgesamt sieht die Mutter ihr Kind und die Mutter-Kind-Beziehung anders:
Die amerikanische Mutter sieht ihr Kind als ein potentiell eigenständiges, unabhängiges Wesen, das lernen sollte, für sich zu denken und zu handeln. Für sie ist das Baby von Geburt an ein Wesen mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen, die sie lernen muß zu erkennen und zu umsorgen. Sie hilft ihm, sich verbal zu äußern durch Vokalisierung, damit er ihr seine Bedürfnisse äußern kann. Sie legt weniger Bedeutsamkeit auf Körperkontakt. In dem Maße, wie sie ihr Baby als ein eigenständiges Wesen auffaßt, erlebt sie sich als Mensch mit eigenen Bedürfnissen nach eigener Zeit mit ihrem Mann und für eigene Interessen. Deswegen macht sie mehr mit ihrem Baby, so daß es zur Schlafenszeit schläft und sie Zeit für sich hat.
In Japan erlebt die Mutter ihr Kind vielmehr als einen Teil von sich, psychologisch sind die Grenzen viel verwischter, die gegenseitige Abhängigkeit wird betont. Die Mutter weiß, was das Baby braucht und es besteht nicht die Notwendigkeit, daß es ihr sagt, was es braucht, da sie ja virtuell eins sind. Daher weniger Vokalisierung, aber auch weniger Eile in der Babypflege, da sie ja keine anderen Erwartungen hat, Zeit für ihren Mann oder andere Interessen zu haben. Im Durchschnitt schläft das japanische Kind bis zum Alter von 10 Jahren bei den Eltern.
Was bedeutet das?
Die Bedeutsamkeit liegt nun darin, daß Babys mit 3-4 Monaten schon die Grundpattern der jeweiligen kulturell vorherrschenden zwischenmenschlichen Beziehungen gelernt haben. Sie sind bereits jetzt in Einklang mit den später an sie gestellten Erwartungen, was ihr zwischenmenschliches Verhalten angeht, und dies lange bevor sie Sprache erlernt haben.
Diese Erwartung, daß Kinder und Eltern eins sind, zieht sich durch die ganze Kindheit.
Zita von Keigo Okonogi, führender japanischer Psychoanalytikert:
In Japan, parents and children are supposed to bo one and often even share a bedroom. Father an mother conceal the fact they are man and woman; consideration is given so that children may be fused into world of their parents.
For instance, when father goes out to play on Sundays, mother stays at home with the children.
Father enjoys evenings outside, while mother and children wait at home for his return. With such customs, we Japanese feel that the man-woman relations are secretly covered up in the daily living patterns of father and mother.
In the process of child raising, stark confrontation with this fact has been skillfully evaded. Since we have been raised in a world where father and mother conceal their beings as man and woman and where parents are fused with children, we have acquired a psychological structure different from that of the Oedipus Complex.
Consequently, when Japanese children see their fathers and mothers turning into mere men and women, they suffer a greater spiritual crisis than Western children do.
And Japanese parents, for their part, feel guilty over their children’s resentment against them. But they can not claim before their children their own proper rights as man an woman. Children come to censure their fathers, who have lost the paternal principle, for their unworthy fatherhood and chastise their mothers, who have been degraded to the status of mere women. „Why are you a woman?“ is the often heard criticism.
I should like to call this type of resentment against parents the „present-day pre-birth resentment“ (Mishoon)“, which of course is the theme of the Ajase Complex.
It is my understanding that, in the West, it is more common für parents to abuse their children than for children to perecute their parents. I would be interested in knowing whether, in Western countries, and West Germany in particular, there are instance of children directing violence at home against their parents. An if so, in what forms?
Amae oder das Bedürfnis sich von jemanden abhängig zu fühlen
Freud (1931) schrieb, daß alles was mit der ersten Mutter-Kind-Beziehung zu tun hat, ihm elusiv, verloren in der ersten dunklen und schattenhaften Vergangenheit erschien, so schwer wieder hervorzuholen sei, so als hätte es einen besonderen, undurchdringlichen Prozeß der Veränderung untergangen.
Doi schreibt die Bedürfnisse nach Abhängigkeit dem Ich zu, daß sie den Ich-Instinkten des frühen Freud entspringen.
In der japanischen Gesellschaft scheint es eine Belohnung für das Äußern von Abhängigkeitsbedürfnissen zu geben, was in klarem Gegensatz zu westlichen Gesellschaften steht, wo Abhängigkeitsbedürfnisse als etwas angesehen werden, was zum Kind oder zum regredierten Patienten gehört und gewöhnlich unter der Würde des erwachsenen Menschen ist.
Persönliche Unabhängigkeit kann verstanden werden als das Abhängigkeitsbedürfnis auf das eigene Ich gerichtet und als ein Abwehrmechanismus setzt es ein Ich voraus, welches Wert ist, sich darauf zu verlassen.
Amae (das Konzept von Abhänigigkeitsbedürfnissen) ermöglicht es persönliche und gesellschaftliche Systeme in Beziehung zu setzen.
Nach Takeo Doi war das persönliches Bedürfnis nach Unabhängigkeit eine treibende Kraft vieler westlicher Errungenschaften.
Japaner suchen nicht nur die Nähe einer Gruppe oder von Menschen, indem sie sich mit der Gruppe identifizieren und enge Beziehungen suchen, sondern sie denken auch in Kategorien eigener Vorteile und wie sie die Gruppe beinflussen können. Sie versuchen ihre eigene Abhängigkeit in Kontrolle des Anderen zu verwandeln. Abhängigkeitsbeziehungen basieren nicht auf rigiden sozialen Rollen eines Abhängigen und eines Überlegenen, sondern sind flexibel im Fluß.
Die japanische Fähigkeit Fisch differenziert wahrzunehmen gegenüber Fleisch oder ein Röntgenbild ist vergleichbar zu der Fähigkeit Nuancen einer Abhängigkeitsbeziehung wahrzunehmen, welche jedoch Ich-synton ist.
Die Initiative der Japaner seit der Meiji-Zeit entspringt weniger einem Bedürfnis nach Unabhängigkeit als dem Bedürfnis respektiert und angenommen zu werden (das Klagen über Rohstoffabhängigkeit ist ein forderndes Klagen, welches Rücksichtnahme fordert, das Klagen über den doppelten Nixon-Schock). Ihre Energie zur Modernisierung entspringt der freien Energie, welche weder an Unabhängigkeitsstreben gebunden ist noch durch soziale Beziehungen.
Olympische Spiele waren ein Ansporn Tokyo zu modernisieren. Daraus erklärt sich natürlich auch die Wut über eine nicht erhaltene Anerkennung. (Es ist eine interessante Tatsache, daß es in Japan zwar viel weniger Morde als in westlichen Gesellschaften gibt aber viel mehr Elternmorde durch Kinder welche sich von ihren Eltern vernachläßigt fühlen). Anerkennung ist nur etwas Wert von jemanden, den man auch respektiert.
Selbstverwirklichung, Psychoanalyse stellen auch einen Versuch dar, den in Bedrohung geratenen Abwehrmechanismus der Unabhängigkeit (Bewältigungsmechanismus) zu rekonstituieren, um der gegenwärtigen Bedrohung einer immer konfuseren und in Umbruch geratenen Welt trotzen zu können. Die Fähigkeit mit realen Abhängigkeiten umgehen zu können, würde ich hypothetisch behaupten, ist bei Japanern besser ausgebildet.
Doi meint, daß nur die, welche in Bezug auf ihre Abhängigkeitsbedürfnisse konfliktfrei sind (Beispiel körperlich kranker Japaner, welcher sich pflegen läßt und den Zustand der Abhängigkeit flexibel genießt und benützt) und flexibel davon Gebrauch machen können, anderen helfen können, welche krank werden, da sie in ihren Abhängigkeitsbedürfnissen frustriert und nicht angenommen werden.
Nach Gallup waren 1972 die japanischen Jugendlichen amunzufriedensten.
Kritik von Kimura Bin an Doi
Er meint, daß Amae bedeutet, daß bereits eine Verschmelzung stattgefunden hat und nun die „Forderungen“ gestellt werden und es in Japan wichtig und adaptiv sei, da die Herzen der Mitmenschen im Gegensatz zu den Westlern unberechenbar seien, während unsere Beziehungen auf gegenseitigem Vertrauen und Berechenbarkeit basierten.
Der Ajase-Komplex
Während Freud den Ödipus-Komplex für das Selbstverständnis des abendländischen Menschen und seiner Psychopathologie als grundlegend angesehen hat, entfaltet Kosawa, der erste, in Wien 1933 ausgebildete japanische Psychoanalytiker eine dem japanischen Kulturbewußtsein entsprechende Theorie, welcher der Ajase-Mythos zugrunde liegt.
Ajase ist der ersehnte Sohn, der der Königin Idaike die Liebe ihres Gatten Binbashara auch im Alter erhalten soll. Freilich leidet sie unter ihrer Unfruchtbarkeit, bis sie den prophetischen Hinweis empfängt, daß erst ein in den Bergen lebender Weise sterben muß, dessen Reinkarnation in ihrem Leib ihr allein die Geburt eines Sohnes ermöglicht. Nachdem sie den Weisen ermordet hat, wird er ihr als eigener Sohn wiedergeboren, der aber von dem Fluch, den die Mutter auf sich geladen hat, ebenso wie sie betroffen ist. Trotz dieses Verhängnisses wächst der Knabe bis zu seiner Jugend in glücklicher Einmütigkeit mit seinen Eltern heran; doch er erfährt von dem Geheimnis seiner Geburt, nachdem er König geworden ist. Der anfängliche Haß, der sich zunächst auf den daraufhin eingekerkerten Vater richtet, der die Mutter wegen ihrer Unfruchtbarkeit zu verstoßen drohte, schlägt später gegen die Mutter um, als sie ihren Gatten vor dem Hungertod im Gefängnis zu retten versuchte. Ajase plant in seiner Wut, die Mutter zu töten; nachdem ihm aber ein Diener erzählt hat, daß Söhne zwar ihre Väter umbringen, niemals aber die Mutter, wird Ajase von heftigen Schuldgefühlen befallen, die ihn in tiefe Schwermut führen und ihm eine schwere Hauterkrankung eintragen; der Geruch, welcher von ihr ausgeht, läßt alle Menschen um ihn herum bis auf die seinen Haß vergebende Mutter sich zurückziehen; trotz seiner Aggressionen pflegt sie ihn mit Hingabe und verhilft ihm dadurch wieder zur Gesundheit. Die Versöhnung mit den Eltern ist gleichzeitig der Prozeß seiner Rekonvaleszenz.
Dieser Mythos ist Ausgangspunkt psychoanalytischer Folgerungen: die Symbiose mit der Mutter und das daraus ableitbare narzißtische Omnipotenzgefühl wird in empfindlicher Weise gestört, nachdem der Sohn von den Umständen seiner Geburt und dem Ursprung seiner Identität erfahren hat; hier liegt die Ursache heftigster Aggressionen, des Wunsches, die Mutter umzubringen, und der mit den Schuldgefühlen einhergehenden psychosomatischer Symptome, die zugleich das befriedigende Erleben interpersoneller Beziehungen verhindern. Die Überwindung der Depression vollzieht sich im Heilungsvorgang der körperlichen Erkrankung und gleichzeitig im Medium einer Wiederherstellung zerstörter Kommunikationsstrukturen. Die schließliche Versöhnung mit der Mutter ist Index für eine gelungene Ich- und Körper-Indentitäts-Entwicklung.
Diese Dynamik von Symbiose, erster Identitätserfahrung, tödlicher Ambivalenz, Bewältigung des Schuldgefühles, der Psychosomatik und Rückkehr zur Mutterliebe repräsentiert die Stufen der psychogenetischen Identitätsentwicklung, die für Kosawa dem japanischen Selbstbewußtsein zugrunde liegt. Die Umsetzung dieses Mythos in eine Ich-psychologisch orientierte psychoanalytische Metapsychologie und psychosomatische Theorie vollzieht sich in mehreren Schritten:
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Die in der Ich-Identität internalisierte Spaltung zwischen der guten und bösen Mutter;
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Die Integration dieses Splittings der Ich-Identität;
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Die Integration dieses Splittings der Körper-Ich-Identiät;
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Die Überwindung und Annahme der Ambivalenz der Mutter gegenüber.
In psychopathologischer Hinsicht rückt Kosawa in die Nähe kleinianischer Positionen: Die Fixierung auf den destruktiven Status des Hasses gegen die Mutter würde in etwa der regressiven Stufe paranoischer Schizoidie und ihren hypochondrischen, wie manifest psychosomatischen Körper-Ich-Entfremdungen entsprechen.
Okonogi beschäftigt sich in seinen Arbeiten mit dem sog. typisch japanischen Masochismus und der aufgrund der kulturspezifischen Gruppenstruktur „angeborenen Ablehnungshaltung“.
Gegenwärtig ist in der japanischen Gesellschaft eine ansteigende Aggression der Jugendlichen gegenüber ihren Eltern zu beobachten, was zu einem immer größer werdenden Problem führt.
Aus Sicht des Ajase-Komplexes wird dies als die aggressive Lösung aus der narzißtischen Symbiose mit der Familien-Eltern-Gruppe gesehen.
Als ein weiteres kulturspezifisches Charakteristikum der japanischen Persönlichkeitsstruktur im interpersonellen Beziehungsfeld wird die Abhängigkeit von anderen, eine „auf den Anderen-Zentrierung“, beschrieben. Harmonisierungsbestreben im verbalen und aktuellen Verhalten kennzeichnen die personellen Interaktionen, was bis zur Aufgabe der eigenen Identität und körperlichen Integrität gehen kann.
In einer symbiotischen Verschmelzung mit dem Anderen entsteht das psychologische Prinzip des japanischen Masochismus:
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die Stärke der Zugehörigkeitsgefühle zu einer Gruppe oder Organisation; der Hauptlebenssinn des Individuums wird durch die Identifikation mit einer Organisation oder Gruppe ausgemacht.
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Verzicht auf eigene Lebensrechte und seien sie auch einsichtig. Trotz Leiden und Opfer wird der Befriedigung und dem Gewinn anderer Personen und Organisationen die absolute Priorität eingeräumt.