Meine Reise verdankt ihre Entstehungsgeschichte meiner Arbeit in unserer Düsseldorfer Friedensgruppe „Psychologie und Frieden“ ,die sich zum Ziel gesetzt hat , Friedensarbeit nicht nur im Protest gegen Raketenaufstellung zu erschöpfen , sondern am Aufbau von Friedensperspektiven mitzuwirken . Bereits zwei Mitglieder daraus waren als Aufbauhelfer in Nicaragua . Ferner war bedeutsam Dipl.-Psych. Hannelore Pott , deren Aufruf zur Unterstützung des einzigen psychologischen Fachbereichs in Nicaragua , an der Universität Managua , mich Mitte 1985 erreichte .
Der frühere Dekan der humanistischen Fakultät , Jaime Whitford , hat gerade wegen seiner Psychologiestudienjahre 1975/76 in München eine Affinität zu Deutschland . Er ist aufgrund der großen Armut in Nicaragua sowohl um materielle Unterstützung ( in Form von Büchern oder Geld ) bemüht , als auch daran interessiert , daß Menschen an die Universität kommen und dort lehren .
Um zu verstehen , daß die Reise so gut organisiert war , muß man wissen , daß Jaime Whitford zu den etwa 500 aktiven Mitgliedern (militante) der Sandinisten in Managua gehört und meinen Aufenthalt dort mit viel Liebe und Sorgfalt vorbereitet hat . Dies erklärt auch , weshalb mir so viele Türen geöffnet wurden und mir darüber hinaus ermöglicht wurde , in dem einzigen psychiatrischen Militärhospital Nicaraguas Supervisionsarbeit zu machen . Ich möchte ihm für seine Unterstützung und Vertrauen auch an dieser Stelle noch einmal danken .
Während meines Aufenthaltes hatte ich verschiedene Aufgaben : das Durchführen von Workshops über analytische Gruppenpsychotherapie und Kurz- und Notfalltherapie an der Jesuitenuniversität „Centralamerika“ in Managua mit Professoren des einzigen psychologischen Fachbereichs Nicaraguas , mit niedergelassenen Psychotherapeuten und Psychlologen , mit Psychiatern aus Kliniken und Zentren für psychische Gesundheit und mit Angehörigen des einzigen psychiatrischen Krankenhauses des Militärs ;
das Durchführen einer Selbsterfahrungsgruppe mit einem Teil dieses Teilnehmerkreises ;
Arbeit mit den Studenten des 3. Jahres Psychologie an der Universität , wobei wir Rollenspiele gemacht haben und ich die Technik des Erstinterviews gelehrt habe .
Daneben habe ich eine Supervisions-Gruppe im psychiatrischen Militärhospital Nicaraguas abgehalten , in der akute Probleme mit hospitalisierten Patienten besprochen und Behandlungspläne erstellt wurden , und habe einen Kurs über Milieutherapie durchgeführt .
Ferner wurde ich hinzugezogen , um die Psychologen des Fachbereichs bei der Veränderung des Curriculums für die nächsten fünf Jahre zu beraten . Es stellte sich heraus , daß die bisherige Tendenz ist , möglichst alles zu unterrichten , aber nur theoretisch . Es besteht ein großes Bedürfnis und eine große Notwendigkeit , mehr Praxis zu lehren in Form von Selbsterfahrungsgruppen , Rollenspiel und wenn möglich sogar therapeutischer Arbeit .
Gelebt habe ich während meines Aufenthaltes in Managua im Gästehaus der Universität . Daß ich dort leben konnte , entpuppte sich als sehr großer Vorteil , da ich sonst viel Zeit hätte damit verbringen müssen , mir meine Verpflegung zusammenzukaufen . So gab es in dem Gästehaus eine sehr nette Nicaraguenserin , die uns das tägliche Schlange-Stehen und den Kampf um Verpflegung abnahm . Uns , das hieß vier kubanische Agronomen , eine uruguaiische Logopädin , eine deutsche Germanistin und einen deutschen Psychoanalytiker . Als typische Nicaraguenserin aus der Unterschicht hatte sie , wie mir öfters versichert wurde , auch bereits ein typisch nicaraguensisches Frauenschicksal hinter sich . Mit 24 Jahren hatte sie vier Kinder , alle von verschiedenen Vätern , die aber bei ihrer Familie leben müssen , damit sie ihren Job ausüben kann , den ihr der Pfarrer vermittelt hatte . Der Zusammenhang zwischen der machterhaltenden , unterdrückenden Einstellung der katholischen Amtskirche gegenüber Geburtenkontrolle , den von Rom produzierten Schuldgefühlen , und der von den kirchlichen Instanzen so „großzügig“ gehandhabte Teufelskreis der Abhängigkeit dieser Nicaraguenserin , der sicher schon über Generationen besteht , schien mir nur zufällig . Nun ist sie glühende Sandinistin ! Ein Hoffnungsschimmer , den Teufelskreis zu durchbrechen !
Um einen Einblick in meine Arbeit zu vermitteln , möchte ich einige Beispiele aus meiner Supervisionsarbeit an den Anfang stellen , die auch ein Gefühl dafür vermitteln vermögen , welche zentralen Konflikte Nicaraguenser heute bewegen .
Am zweiten Morgen nach meiner Ankunft stand gegen 8.30 Uhr ein großer Militär-LKW vor dem Haus . Heraus stieg , mit einer Pistole bewaffnet , ein Militärpsychologe . Ein paradoxes Bild , das mir ebensolche widersprüchlichen Empfindungen machte ! Das Gefühl , der sandinistischen Bewegung ganz nahe zu sein , aber auch Gefühle von Beklemmung und Zweifel , ob ich als Psychoanalytiker und Gruppentherapeut hier angebracht sei , ob ich es überhaupt überblicken könne , auf was ich mich hier einlasse , ob ich das wolle und verantworten könne . Diese Fragen bewegten mich noch oft , aber am Ende meines Aufenthaltes konnte ich sie aus vollem Herzen bejahen .
Das Militärhospital liegt ungefähr 10 km außerhalb Managuas , sehr idyllisch , umgeben von einem kleinen Park , und verfügt über 18 Betten . Da es sich um das einzige psychiatrische Krankenhaus des Militärs handelte , bekam ich hier den besten Einblick in die Konfliktseite Nicaraguas . Bei ca. 60.000 – 80.000 Soldaten sind 18 Betten natürlich sehr wenig . Die Kranken leben sehr einfach mit den Ärzten zusammen , es gibt therapeutische Gespräche , ebenso eine Art Milieutherapie . Es werden auch Medikamente verabreicht , dennoch geht es insgesamt sehr human zu . Von den Ärzten und Therapeuten hatte ich einen guten Eindruck ; man merkte ihnen an , daß sie wirklich mit ihren Patienten leben und arbeiten . Viele hatten schon Workshops mit der österreichisch-mexikanischen Psychoanalytikerin Marie Langer mitgemacht und waren sehr um ihre eigene therapeutische Entwicklung bemüht . In der Supervision wurden verschiedene Patienten mit ihren Krankengeschichten vorgestellt , und jeder konnte sich dazu äußern , wie er den Patienten erlebt , welche Beziehung er zum Patienten hat , etc. … Dabei ergaben sich regelrecht die zentralen bewußten und unbewußten Konfliktsituationen im Spiegel der Gruppe . Ich erinnere mich beispielsweise an einen Patienten von etwa 18 Jahren : er stammte aus den ärmeren Gebieten von Managua , lebte zusammen mit vier weiteren Geschwistern in einer schizophren machenden Familiensituation , in der der Vater meist abwesend war . Er hatte bisher nicht manifest schizophren reagiert . Im Alter von 16 Jahren ging er zur Armee , wo er eine starke Zuneigung zu seinen Kompaniechef entwickelte , den er quasi als Vater , den er nie wirklich gehabt hatte , liebte . Dieser Mann ist dann eines Tages von den Contras erschossen worden , was für den jungen Mann gleichsam ein doppelter Schock war , unter dem er dann auch zusammenbrach : der Verlust des geliebten Menschen im Hier und Jetzt , aber auch der Verlust seines Vaters , der sich hier wiederholte .
Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in der Klinik ist er wieder Zuhause gewesen , bis er es nicht mehr ertragen konnte und er wieder in die Klinik mußte . Seine katatone Reaktion konnten wir als Ausdruck seiner ohnmächtigen Wut und seiner gleichzeitigen Unfähigkeit diese zu äußern verstehen und gemeinsam nach Wegen suchen , um ihm aus seiner Sackgasse zu helfen . Dabei zeigte sich übrigens sehr schnell , daß die harten klinischen Essentials , wie zum Beispiel die Arbeit mit destruktiver Aggression oder gruppen- und psychodynamisches Verständnis , auch im nicaraguensischen katholischen Kulturkreis anwendbar und von therapeutischen Nutzen sind . Die Supervisionsarbeit , die wir gemeinsam gemacht haben , verlief sehr offen und stellte mit die intensivste Arbeit dar , die ich in Nicaragua gemacht habe . Sie war wesentlich offener für die psychischen , familiendynamischen und gesellschaftlichen Faktoren und Aspekte der Patienten als dies im größeren Teil unserer überwiegend biologisch orientierten psychiatrischen Krankenhäuser der Fall ist .
Erwähnenswert ist an dieser Stelle noch , daß die Ärzte und Psychologen des Militärhospitals jederzeit in Frontgebiete versetzt werden können , um dort therapeutisch tätig zu werden , was ihnen den Umgang mit Trennungen unglaublich erschwert . Die Termine der Versetzungen werden aus Sicherheitsgründen geheimgehalten . Mit Trennung ist äußerst schwer zu arbeiten , wie Psychotherapie in einer Kriegssituation überhaupt sehr schwierig durchzuführen ist : die Angriffe geschehen von außerhalb , die gesamte Aggression kann also in den Feind projeziert werden . Wir diskutierten deshalb öfters darüber , daß es wichtig ist , sich bereits jetzt auf den Frieden in Nicaragua vorzubereiten . Die Problematik , die sich dann ergeben wird , nämlich das Aufbrechen psychischer Spannungen , die jetzt noch durch den Kriegszustand und Feindbilder schwammartig absorbiert werden , wird von einigen aber auch schon jetzt klar erkannt .
An der Universität führte ich auch eine Supervisionsgruppe durch für Mitarbeiter ambulanter Zentren psychischer Gesundheit und verschiedener Beratungsstellen . Aus dieser Gruppe stammt der Bericht einer Psychologin , welche folgendes Problem einbrachte und das einige der typischen nicaraguensischen Konflikte zu beinhalten schien . Eine junge Frau hatte wegen psychosomatischer Beschwerden die Beratungsstelle aufgesucht , sich beim zweiten oder dritten Gespräch auch öffnen können und der Psychologin die Geschichte einer leidvollen Beziehung offenbart . Ihr erster Mann war in die Armee eingezogen worden , als sie ihn nach einigen Monaten im Grenzgebiet besuchte , erfuhr sie , daß er eine Geliebte hatte . Sie war sprachlos und kehrte ohne sich mit ihm ausgesprochen zu haben nach Hause zurück . Nach einer Woche erhielt sie die Nachricht , das er im Kampf gefallen war . Mir , aber auch den anwesenden Militärpsychologen und -psychiatern schien der Zusammenhang seines Todes mit seinen offensichtlichen Schuldgefühlen nur zu naheliegend . Nach ca. 2 Jahren lernte die Frau einen anderen Mann kennen , der sie auch unbedingt heiraten wollte und in den sie sich auch verliebte . Aber schon wenige Monate nach ihrer Hochzeit merkte sie bei sich eine zunehmende Gefühlskälte und Apathie .
Nun , es stellte sich heraus , daß sie immer noch bei ihren Eltern lebte , ihren Mann , da er in einer anderen Stadt arbeitete , auch nur am Wochenende sehen konnte und dieser darüber hinaus von ihren Eltern auch nicht besonders geschätzt wurde . Sie traute sich nicht , von zu Hause auszuziehen und ihm zu folgen , da sie einerseits ihre Eltern nicht verletzen wollte , sich diesen Schritt in die Selbständigkeit aber auch nicht zutraute . In der darauffolgenden Diskussion dieses Schicksals versicherten mir mehrere Mitglieder der Gruppe , daß hier typische Probleme nicaraguensischer Frauenschicksale , bzw. Persönlichkeitsstrukturen angesprochen seien , das Streben nach Eigenständigkeit und gleichzeitig die Angst davor , aber auch das Problem der eingefrorenen Trauer , der nicht geleisteten Trauerarbeit über den in diesem Beispiel ja sogar doppelt verlorenen Mann .
Verluste müssen von den Menschen in Nicaragua tagtäglich hingenommen werden , in so großer Zahl – hier wird jemand erschossen , dort Kinder durch Minen legende Contras ermordet – daß eine Verarbeitung nicht mehr möglich ist .
Man muß sich vergegenwärtigen , daß es nicht nur in den letzten fünf Kriegsjahren zu solchen Trennungen kam , auch in den 40 Jahren der Diktatur der Somozas konnte jeden Tag die Guardia kommen und jemanden abholen , der damit einfach weg war . Trennungen sind hier zum Trauma geworden , an das nur schwer ranzukommen ist . Am ehesten spürbar und am meisten zugelassen waren diese Gefühle von Menschen im geschützten Rahmen des Militärhospitals , während es sich in der Selbsterfahrungsgruppe durch große Schwierigkeiten , sich einzulassen darstellte . Die Mitglieder , die sich untereinander vorher größtenteils nicht gekannt hatten , hatten große Mühe , sich zu öffnen . Ein Lieblingsausspruch der Nicaraguenser , der mir immer wieder begegnete und als typische Reaktionsbildung auf die spannungsgeladene Grundsituation des Landes auffiel war : „Yo me siento tranquillo“ (ich fühle mich ruhig , entspannt ) .
Drei Dimensionen meiner Erfahrungen möchte ich besonders darstellen , da sie mir von allgemeiner Bedeutung erscheinen . Die erste betrifft die Konfrontation mit der sicher von allen Bundesdeutschen , wenn auch jeweils in unterschiedlichem Ausmaß , verinnerlichten ideologischen Aufteilung der Welt in Ost und West . Wer sich aufrichtig beobachtet , wird sie unweigerlich bei sich erspüren , wenn er mit dem imaginären Schnittpunkt dieser Welt in Berührung kommt .
Während meines anschließenden Aufenthaltes in Costa Rica , an der „Peace-University“ der UNO , hatte ich Gelegenheit , die dortigen Nachrichten zu verfolgen . Nicaragua wurde als totalitär regiertes Regime dargestellt . Auch die nordamerikanische Darstellung in „Voice of America“ , die ich in Managua hörte war : „Der Kommunismus herrscht , alles ist streng reglementiert .“
Meine persönlichen Eindrücke widersprachen der „offiziellen“ Berichterstattung völlig . Sie waren absolut konträr zu meinen alltäglichen nicaraguensischen Erfahrungen . Bis auf einen zwanghaften Grenzbeamten bin ich mit niemandem zusammengestoßen , alle waren sehr aufgeschlossen , das hin und wieder aufmarschierende Militär in Managua übte nur für den 25. Jahrestag der Gründung der FNLS . Im nicaraguensischen Fernsehen z.B. wurde ein Besuch des Präsidenten Ortega in der verstaatlichten Coca-Cola-Fabrik , life übertragen . Er wurde nicht nur von den Arbeitern der Coca-Cola-Fabrik , sondern auch von denen der umliegenden Fabriken mit Fragen und Beschwerden bestürmt , was im Fernsehen auch offen gezeigt wurde . Während meines Aufenthaltes fanden z.B. zwei Wochen lang keine Inlandflüge statt , weil kein Benzin da war . Der Direktor der Universität erzählte mir auch von einem Gespräch mit dem Erziehungsminister , in dem dieser ihm geklagt hatte , die Zahl der Analphabeten würde wieder steigen , da man kein Geld mehr habe , das Programm zur Alphabetisierung der Bevölkerung in ausreichendem Umfang fortzusetzen .
Mit Problemen wird offen umgegangen . Während meines Aufenthaltes gab es täglich unzensierte Fernsehübertragungen aus dem Parlament , wo von verschiedenen Parteien sehr kontrovers über eine neue Konstitution diskutiert wird , welche Themen wie die gesellschaftliche Stellung der Frau , die Bedeutung der Familie , die Integration der Atlantikküste etc. behandelt . Und das in einem „totalitären“ System?! All das wird in den Medien Costa Ricas und der USA mit keinem Wort erwähnt !
Die persönliche Konfrontation mit unreflektierten , übernommenen Vorurteilen und Einstellungen , von ideologisch geprägten Medien gelenkt und manipuliert , und einer Realität , die dem völlig widerspricht , verunsichert tiefgreifend und macht Angst , v.a. wenn man spürt , wie sehr man selbst verstrickt ist in diese Ideologien und wie wenig man sich verlassen kann auf die Medieninformation , die ideologisch geprägt ist , aber auch , wie wenig flexibel man selbst mit „unerwarteter“ Realität umgeht.
Welche Ängste die Konfrontation mit verinnerlichten ideologischen Strukturen und das damit In-Frage-Stellen eigener Ein- und Wertvorstellungen auslöst , konnte bei den Gipfelgesprächen in Reykjavik beobachtet werden . Die amerikanischen Tagungsteilnehmer konnten ihre Verunsicherung nicht mehr verbergen , die durch die unerwartete sowjetische Gesprächsbereitschaft , Kontaktbereitschaft und Offenheit für unkonventionelle Lösungen ausgelöst wurde . Die verinnerlichte Realität des Feindbildes UdSSR stimmte nicht mehr mit der wahrgenommenen Realität im Hier und Jetzt überein ! Die Amerikaner konnten ihre , dadurch ausgelöste Verunsicherung und ihre Ängste nicht mehr verbergen ( siehe zum Beispiel im Fernsehinterview von Außenminister Schulz ) und sie konnten ihren Angstpegel nur dadurch senken , daß sie sich auf ihre primitiven , verkrusteten ideologischen Strukturen (siehe die Ansprache Reagans vor den amerikanischen , auf Island stationierten Soldaten ) zurückzogen .
Es ist meine tiefe Überzeugung , daß man dieser Konfrontation und diesen Ängsten nicht aus dem Weg gehen darf , wie etwa Jutta Dithfurt bei den Grünen propagiert (prinzipiell keine Koalition und damit keine sich auf den anderen einlassende Auseinandersetzung mit dessen unterschiedlichen Auffassungen ) . Dadurch wird durch eigene Berührungsängste , bzw. durch Ängste , verschlungen zu werden oder unterzugehen , ebenso eine Weiterentwicklung verhindert wie durch die unreflektierte und distanzlose Identifizierung mit einer ideologischen Partei .
Ich bin der Überzeugung , daß es nur durch eine im weitesten Sinne gruppendynamische Selbsterfahrung in der Begegnung mit beiden ideologischen Welten gelingen kann , diese ideologische Grenze zu überschreiten . Denn es gilt die Angst vor dem innerlichen Zusammenbruch , die in der Rationalisierung „lieber tot als rot“ gipfelt , zu erkennen , auszuhalten und zu überschreiten , um die verkrusteten ideologischen Strukturen zu überwinden und wirklich neue Wege beschreiten zu können .
Die Begegnung mit seiner verinnerlichten bewußten und insbesondere unbewußten Ideologie ist eine wertvolle Erfahrung , welche sicher jeden Nicaraguareisenden bereichert .
Die zweite Dimension , die Begegnung mit der Armut oder vielleicht besser mit einer uns unvorstellbaren Mangelsituation erscheint mir viel schwerer in Worte zu fassen .
Sie berührt den Seelenzustand , der von einigen Bildreportern während des Vietnamkrieges beschrieben wurde , welche am Vortag die zerrissenen von Napalm verbrannten Leiber vietnamesischer Kinder erlebt hatten , und nun auf der 5th Avenue in New York im Wohlstand einer Überflußgesellschaft dinierten . Die sprachlos machende Wirkung liegt im grauenhaften Entsetzen der einen Erfahrung , aber vielleicht noch mehr im Kontrasterlebnis , welches um mehrere Quantensprünge das des „normalen“ Kulturschocks übertrifft .
Ich habe eine vage Ahnung davon , daß diese Dimension die tiefsten seelischen Bereiche des Nord-Süd
Konfliktes berührt und wir es bisher noch nicht gewagt haben , uns dieser Erfahrung zu stellen . Es erinnert mich auch sehr an die Schilderungen der emotionalen Taubheit , welche uns der nordamerikanische Psychiater Lifton als typische Reaktion der Hiroshima-Atombombenopfer auf ihre unaussprechliche Erfahrung beschrieben hat .
Diese Dimension der Erfahrung leitet über zur Begegnung mit „struktureller“ Gewalt . Um zu demonstrieren , was ich damit meine , möchte ich von einer interessanten Begegnung berichten , die ich mit einer schwarzen Krankenschwester hatte , die von der englischsprachigen Atlantikküste kam , wo noch jetzt drei Indianerstämme mit eigenen Kulturen leben . Diese Frau erzählte mir , daß dieser Teil des Landes eine völlig andere Kultur besäße , in keiner Weise mit der Managuas vergleichbar , die Stadt wäre ihr nach 5 Jahren immer noch so fremd wie das Ausland . Somoza hatte die Menschen der Atlantikküste weitgehend unbeachtet gelassen , jedoch jedem Intellektuellen , der dort aufbegehrte , ein Stipendium in den USA oder Spanien angeboten , in der Hoffnung , er werde durch den dort höheren Lebensstandart verführt , dort zu bleiben , so daß die „Ruhe“ in Nicaragua nicht bedroht würde . Auch der Bruder meiner Gesprächspartnerin hatte so ein Stipendium erhalten : er lebte jetzt in Florida . Auf diese Art und Weise ist dem Land über Jahrzehnte hinweg jede Möglichkeit zur Entwicklung eines Schul- oder Gesundheitswesens systematisch genommen worden . Ein Fall von struktureller Gewalt , wie er meinem Erleben nach typisch für das Land ist ! Auch an der Universität macht sie sich durch das Fehlen einer gewachsenen akademischen Tradition bemerkbar .
Ein typisches Beispiel , das strukturelle Gewalt in Lateinamerika heute in meinen Augen plastisch verkörpert , sind die Landarbeiter von El Salvador . Im Zuge einer Landreform haben sie ihr eigenes Land erhalten , welches vorher ihrem Patron , bzw. Großgrundbesitzer gehört hatte . Heute aber bitten sie darum , dem Patron das Land zurückgeben zu dürfen und unter seiner Besitzherrschaft arbeiten zu dürfen . Wie kommt das ? Erstens : Es fehlt ihnen das Know-how . In vielen Fällen wissen sie zuwenig darüber , wie sie das Land effektiv bestellen können . Zweitens fehlen ihnen Kredite , um qualitativ hochwertiges Saatgut kaufen zu können und drittens fehlt ihnen eine effektive Verkaufsorganisation , so daß sie ihr Erntegut gewinnbringend verkaufen können . So ist es zu verstehen , daß sie heute hilferingend nach dem Patron rufen , weil es ihnen während ihrer „Leibeigenschaft“ relativ besser ging .
Bereits dieses Beispiel läßt erahnen , daß strukturelle Gewalt auch einen Niederschlag in der Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen haben muß . Denn man könnte sich sehr wohl vorstellen , daß andere Landarbeiter es geschafft hätten , sich ein eigenes landwirtschaftliches >Betriebssystem aufzubauen . Strukturelle Gewalt beinhaltet immer eine ungleiche Verteilung von Ressourcen und Chancen einerseits und andererseits unterschiedlich ausgeprägte defizitäre Persönlichkeitsstrukturen . Wer Strukturen struktureller Gewalt wirksam verändern möchte , muß Bedingungen schaffen , unter denen beides verändert wird .
Wer versucht diesen strukturellen Konflikt , den es auch in Nicaragua zu überwinden gilt , auf ein ideologischen zu reduzieren , stellt sich hinter die bestehenden Machtstrukturen und unterstützt die bisherige Diktatur und Oligarchie . Alphabetisierung , Gesundheitsversorgung für jedermann , der Aufbau psychologischer Zentren , Landreform , Erziehung sind u.a. Projekte , welche struktureller Gewalt entgegentreten . Diese werden von den Ausüben struktureller Gewalt in Honduras , El Salvador , Guatemala und last not least den USA als massive Bedrohung der von ihnen vertretenen Machtstrukturen erlebt . Sie sind auch eine Bedrohung , da sie dort Unterdrückten ihres Schicksals bewußt machen . Dies hinter dem ideologischen Mäntelchen Demokratie gegen Kommunismus zu verstecken , ist Heuchelei und Betrug . Warum wohl haben die USA Somoza und seinen Clan 40 Jahre lang die Treue gehalten und ihn unterstützt , wenn ihnen doch so an der Entwicklung einer Demokratie gelegen haben soll ?
Um der strukturellen Gewalt , welche auch in den Persönlichkeitsstrukturen ihren Niederschlag gefunden hat wirksam zu begegnen , geht es jetzt in Nicaragua auch darum , das Volk zu erziehen und Platz für demokratische Strukturen zu schaffen , Der Direktorin des Fachbereichs Psychologie ist es zum Beispiel ein besonderes Anliegen , eine Aufklährungskampagne über Kindererziehung zu starten , um vor allem der körperlichen Züchtigung von Kindern Einhalt zu gebieten , die auch heute in Nicaragua noch weit verbreitet ist und erst nach der Revolution , zumindest in den Schulen , verboten wurde .
Während einer im Fernsehen übertragenen Diskussion zwischen Präsident Ortega und Fabrikarbeitern kam das Thema Hasenfus , des über Nicaragua abgeschlossenen US-Söldners zur Sprache . Die Arbeiter waren überwiegend der Ansicht , man solle ihn sofort ohne Prozeß einsperren – in Nicaragua gibt es seit dem Somoza-Sturz keine Todesstrafe mehr , die Höchststrafe beträgt 30 Jahre – und der Präsident erwiderte daraufhin , daß es wichtig sei , daß dieser Mann einen fairen Prozeß bekomme , auch um den Unterschied zu den Zeiten des Diktators Somoza klarzustellen .
Auch ist der Gegensatz Demokratie – Kommunismus völlig irreführend . Denn ist es nicht demokratischer , wenn bereits auf Gemeindeebene und Betriebsebene die Fähigkeit zur sozialen Partizipation der Bürger gefordert und gefördert wird , als daß 37% der US-Bevölkerung alle 4 Jahre wählen gehen !
Unter der Fähigkeit zur sozialen Partizipation verstehe ich die Fähigkeit eines Menschen , sich für sein gesellschaftliches Umfeld , für andere gesellschaftliche Gruppen zu interessieren , ein Bewußtsein für sein geschichtliches So-Geworden-Sein zu haben , teilzunehmen an der „res publica“ und sich gesellschaftlichen Großgruppen anzuschließen , welche individuelle Begegnung , Auseinandersetzung und Wachstum ermöglichen , welche den unterschiedlichen Standpunkt des anderen wahrnehmen und darüber eine nicht-gewalttätige konstruktive Auseinandersetzung führen können .
Defizitär ist diese Fähigkeit zur sozialen Partizipation , wenn der Interessenshorizont eines Menschen eingeengt ist , z.B. sich in seinen Interessen auf ein neues Auto , eine Videoanlage und ein Eigenheim beschränkt , er weder Interesse hat für kommunale Belange , noch für nationale oder internationale und kein Bewußtsein für die Geschichte seines Volkes hat .
Als destruktiv und zerstörerisch möchte ich die Fähigkeit zur sozialen Partizipation bezeichnen , wenn sich ein Individuum totalitären , faschistischen Gruppen anschließt , welche ihm ein Pseudo-Gefühl von Macht und Selbstwert vermitteln ohne ihm jedoch reale Möglichkeiten für ein individuelles eigenes Wachstum zur Verfügung zu stellen . Damit einher geht eine Abspaltung ausgeprägter destruktiv-aggressiver Gefühle , welche an den Führer oder die führende Gruppe delegiert und auf einen Außenfeind gerichtet werden .
Wir haben in unserer Forschungsgruppe zum Thema „Frieden und Psychologie“ immer wieder den Zusammenhang diskutiert und herausgearbeitet zwischen der konstruktiven Fähigkeit zur sozialen Partizipation , konstruktiven gesellschaftlichen Großgruppen und einer konstruktiven Adoleszens . Hier haben Lehrer , Jugendorganisationen und vielfach auch das Militär einen entscheidenden Einfluß . Ob ein kreativer , selbstbewußter Mensch heranwächst , oder ein zerbrochener , allzeit anpassungsbereiter , ein in seiner Kindheit steckengebliebener symbiose-abhängiger oder ein „unheimlich“ kreativ-haltloser .
Konstruktive gesellschaftliche Großgruppen zeichnen sich nach unserem Erkenntnisstand insbesondere dadurch aus , daß sie vermeiden Feindbilder aufzubauen , und daß entstehende Aggressionen in Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe ausgetragen werden und nicht projektiv auf äußere Feindbilder verlagert werden . Dadurch ist es gesellschaftlichen Großgruppen möglich , auch die gesunden und konstruktiven Anteile von Widersachern zu erkennen und zu versuchen , sich mit diesen zu verbünden .
In den letzten vier Jahrzehnten wurde in Nicaragua alles dazu getan , die Entwicklung einer konstruktiven Fähigkeit zur sozialen Partizipation zu verhindern und erst nach der Revolution ist eine positive Entwicklung in Gang gekommen .
Genauso gilt es nun , eine Humanisierung zu erreichen . Das bedeutet den Kampf um die Verwirklichung der Menschenrechte , die Abschaffung der Todesstrafe , die Abschaffung der körperlichen Züchtigung der Kinder , die Einführung eines geregelten fairen Gerichtswesens und die Abschaffung der Folter als Meilensteine auf diesem Weg .
Wir dürfen nicht vergessen , daß die Nordamerikaner die Todesstrafe in den letzten Jahren wider vermehrt durchführen , den Tod mit der Giftspritze eingeführt haben und mittellosen „Todeskandidaten“ in manchen Bundesstaaten nicht einmal eine rudimentäre Möglichkeit zur Verfügung steht , gegen ihr Todesurteil erfolgsversprechend Berufung einzulegen (siehe etwa Virginia ) .
Eines Abends bin ich zur Jahresvollversammlung des Deutschen Entwicklungsdienstes eingeladen worden , auf der Jaime Whitford einen Vortrag über die psychologischen Auswirkungen des Krieges auf die Bevölkerung Nicaraguas hielt . Bei dieser Gelegenheit wurde auch aus der Sicht der dortigen deutschen Botschaft die Lage von Nicaragua dargestellt , auf sehr realistische Weise . Die bundesrepublikanische offizielle Regierungspolitik propagiert interessanterweise oft eine völlig andere Einschätzung ! So wurde beispielsweise vertreten , daß es sich bei dem Anschlag auf Koberstein um einen Zufall handelte , da nachts die Minen gelegt würden und es somit den Ersten , der morgens vorbeifährt , erwischen würde , es gehe nicht darum , gezielt Ausländer umzubringen . Weiter erwähnt wurde noch die Landreform , die als einzige realistische Möglichkeit beurteilt wurde , um die Bauern wieder zu Land zu bringen , die zum Teil seit drei Generationen keines mehr besitzen , weil sie ihr Land immer weiter verpfändet hatten , bis es ihnen schließlich ganz abgenommen worden war . Erläutert wurden ferner die Vor- und Nachteile der Zerschlagung des Händlerwesens durch die Regierung : die Händler haben den Bauern nur sehr wenig für ihre Produkte gezahlt , die Ware sehr teuer in den Städten verkauft und sind dadurch sehr reich geworden , die Bauern hingegen immer ärmer . Einerseits ist es damit jetzt vorbei , andererseits gibt es momentan keine kontinuierliche und zuverlässige Verteilung der Lebensmittel . So ist zu erklären , warum es in Managua nur ein- oder zweimal die Woche Fleisch oder Milch gibt . Ein weiterer Grund für die unzureichende Verteilung liegt auch in der Knappheit an Ersatzteilen für LKWs , die zur gleichmäßigen Verteilung der Güter benötigt werden . Ein absolut armes Land also ! Was die verstaatlichte Industrie betrifft , so gibt es lediglich wenige Zweige , wie z.B. die Coca-Cola-Werke , insgesamt prozentual vermutlich weit weniger staatliche Betriebe als in der Bundesrepublik . Hier in Lateinamerika ist die Form des Staatsunternehmens noch als Kommunismus verschrieen . Auch zu den Contras wurden noch sehr kritische Anmerkungen offiziell laut , die sie eher in Richtung Somoza-Banditen rücken , im Gegensatz zu hiesigen Regierungspublikationen .
An diesem Abend gab es noch eine spannende Diskussion zu dem Vortrag über die Auswirkungen des Krieges auf die Bevölkerung . Jaime Whitford stellte in seinem Vortrag die Situation der Bevölkerung als absolute Streßsituation dar : Einerseits der Krieg , andererseits die große wirtschaftliche Not . Auch wenn es mehr medizinische Betreuung und mehr Alphabetisierung als vorher gibt und niemand verhungert , herrscht großer wirtschaftlicher Mangel . Dabei taucht die Frage auf , warum es unter diesen Umständen den Nicaraguensern nicht schlechter geht , als es jetzt tatsächlich der Fall ist . Whitford erklärte dies damit , daß das Streben der Bevölkerung um die Wiedererlangung einer nationalen Identität dem Einzelnen eine gewisse psychische Stärke verleihe .
Diese Interpretation knüpft an Forschungsarbeiten an , welche von unserer Friedensgruppe und mir zum Thema „Nationale Identität und Friedensfähigkeit“ veröffentlicht wurden und wo wir zum Ergebnis kamen , daß sich positive , konstruktive nationale und historische Identität und Friedensfähigkeit gegenseitig bedingen .
Friedensfähigkeit bedeutet in diesem Sinne die Fähigkeit , sich mit den identitätsfördernden und -stärkenden Aspekten der eigenen Nation , mit deren Eigenarten , zu identifizieren , sich ihrer bewußt zu sein und aus ihnen Kraft zu schöpfen . Gleichzeitig geht dies einher mit einer kritischen Wahrnehmung der destruktiven und identitätsverweigernden Aspekte der eigenen nationalen Kultur .
Dazu gehört auch ein Gefühl für das geschichtliche So-Geworden-Sein der eigenen Großgruppe , der eigenen Volksgruppe , der Fähigkeit , sich dieser Geschichte zugehörig zu erleben , ohne sich als passiver Spielball der Geschichte erleben zu müssen .
Zu einer konstruktiven nationalen und historischen Identität gehört aber auch die Fähigkeit , diese Identität zu erweitern und dem grundlegenden menschlichen Bedürfnis Ausdruck zu geben , mit anderen Gruppen und Völkern Kontakt aufzunehmen , sich selbst und seine Fähigkeiten zu erweitern und zu verwirklichen .
In Nicaragua wurde in dem vergangenen Jahrhundert systematisch durch das faschistische Somoza-Regime und die US-Intervention die Entwicklung einer eigenen nationalen und historischen Identität verhindert und Strukturen struktureller Gewalt systematisch aufgebaut . Nun , da es um die Umgestaltung der Gesellschaft geht und die Auseinandersetzung um eine nationale und historische Identität , dies als ein Ost-West-Konflikt zu ideologisieren , bedeutet , die Vergangenheit zu verleugnen und den Nicaraguensern ihr Recht auf eine eigene nationale und historische Identität zu verweigern . Es geht vielmehr darum , sie zu unterstützen bei der Verarbeitung ihrer vergangenen 40 Jahren von Faschismus und Diktatur . Aber dies fällt vielleicht uns Deutschen auf Grund unserer nur mangelhaft aufgearbeiteten faschistischen Vergangenheit auch besonders schwer . Denn Durcharbeiten heißt hier , die Ursachen zu verstehen , warum es damals so war , wie es war , und wie es geschehen konnte , aber gleichzeitig auch , zu den verbrecherischen Handlungen der faschistischen Zeit mit allen Konsequenzen , die hervorrief zu stehen und die Gefühle wahrzunehmen , zu spüren und auszuhalten , die durch das Scheitern entstanden sind .
Zu einer Aufarbeitung gehört auch , die Ursachen des damaligen Handels , der damaligen Geschehnisse und des jetzigen Scheiterns in der eigenen Person , in der eigenen Gruppe , in der eigenen Nation zu erkennen . Erst dann wird eine Veränderung möglich . Und im Fall Nicaragua bedeutet das auch , daß die Kolonialmacht sich mit sich , ihrem Handeln und ihren Verbrechen wider die Menschlichkeit auseinandersetzen müßte .
Insgesamt gesehen war mein Aufenthalt eine sehr intensive Zeit der Arbeit , der Begegnung mit Nicaraguensern in intensiven Arbeitssituationen . Er war für die dortigen Verhältnisse optimal organisiert , die Gruppen liebevoll und interessant zusammengestellt . Ich glaube das meine Beiträge für meine nicaraguensischen Gesprächspartner anregend waren und es wertvoll wäre , diese Art der Begegnung fortzuführen .
Welche zukünftigen Möglichkeiten der Zusammenarbeit denkbar und verwirklichbar wären , war auch das Thema meines Abschiedsessens mit dem Dekan der humanistischen Fakultät , der Direktorin des Fachbereichs Psychologie und dem Rektor der Universität , wobei insbesondere er die Frage aufwarf , ob es in Zukunft nicht auch einmal möglich sein könnte Stipendien in Westdeutschland für interessierte nicaraguensische Studenten zu schaffen . Nun , ich glaube , ein zweiseitiger Austausch wäre keine schlechte Zukunftsperspektive .
Denn auch wir könnten viel aus der aufrichtigen Begegnung mit Nicaragua lernen . Es rührt an die Grundfesten unseres heutigen westlichen „männlichen“ Selbstverständnisses . Denn es berührt die Frage , woher wir unser Selbstwertgefühl bekommen . Aus überlegener Waffenstärke und dem Schwelgen in gemeinsamen kriegerischen Phantasien , wie z.B. dem Krieg der Sterne ? Oder wird es uns gelingen , aus Aktivitäten des Friedens , aus nicht-kriegerischen gemeinsamen Symbolen ein beständiges und ausgeprägtes , positives Selbstwertgefühl zu speisen , das uns ermöglicht , eine Identität als friedensfähige Menschen zu leben , deren Friedenskraft sich nicht in einer 490000 Mann starken Armee erschöpft ? Wie aktuell dieser teifgreifende männliche Identifikationskonflikt ist und welche Formen das Ringen um ein positives Selbstwertgefühl annimmt , wieweit Menschen in ihrem Selbstwertgefühl abhängig sind von erfolgreichen kriegerischen Aktivitäten , zeigen erst jüngst wider die Anhörungen zum Iran-Contra-Skandal in den USA .
Eine Schilderung meiner Reise an den Schnittpunkt des Nord-Süd und Ost-West Konfliktes wäre unvollständig , wenn nicht auch die tiefer liegenden Motive des Reisenden zur Sprache kämen . Denn bilden sie nicht den Ausgangspunkt und in gewisser Weise auch den Endpunkt ! Ist es Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen im eigenen Land , den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ? Unzufriedenheit mit der herrschenden Politikerkaste ? Ist es eine mehr oder weniger bewußt empfundene Identifikation mit den Außenseitern und Unterdrückten dieser Welt , deren Lebensschicksal dem des Reisenden ähnelt ? Sind es tiefliegende Schuldgefühle darüber , in einem Wohlstandsland zu leben und >Tag für Tag das Leiden und Sterben von Millionen von Menschen via Satellit frei Haus geliefert zu bekommen ? Ist es die Faszination der Rebellion gegenüber einer Großmacht , welche das eigene Bedürfnis nach Rebellion in einem durch und durch bürokratisierten , abgesicherten und kontrollierten Leben stellvertretend ausdrückt ? Oder sind es Bedürfnisse nach Identitätserweiterung , nach Begegnung mit andersartigen gesellschaftlichen und kulturellen Erfahrungen ? Ist es eine innere Kraft , verbunden mit einem Sinn für Gerechtigkeit , welche einen Menschen gegenüber struktureller Gewalt sensibel macht , nicht nur im eigenen Land und im näheren Lebenskreis , sondern auch in internationalen Bezügen ? Ist es die gesunde Neugierde , Neues kennenzulernen und sich diesen Erfahrungen vorurteilslos zu stellen oder verantwortungslose Abenteuerlust , welche einer inneren Leere entspringt ?
Es wäre sicher unredlich , hier nur eherne Motive in Anspruch zu nehmen . Wir alle haben ausnahmslos , sicher in unterschiedlichem Maße , unsere Schattenseiten . Die Frage ist vielmehr , ob wir mit ihr in Beziehung stehen oder sie ein von unserem Bewußtsein völlig abgespaltenes Wirken führt und wir bewußt das Böse , Eigennützige und Zerstörerische nur beim anderen , im anderen Lager ausmachen können .
Einer der Führer der sandinistischen Bewegung , Tomas Borges , hat diese tiefe Weisheit am Tag des Sieges der Revolution mit den Worten ausgedrückt :“Die Söhne unserer Helden verdienen ebenso viel Liebe wie die Söhne eurer Mörder „. Er ist damit auch dem weitverbreiteten Problem der unbewußt „vererbten“ Rachsucht entgegengetreten , welche die Kinder die Niederlage und die erlittene Schmach der Väter rächen läßt .
Auch ich habe von den weniger noblen Motiven meinen Teil , aber das ist gut so , denn es macht die Unternehmung ehrlicher . Mein Anliegen in diesem Bericht ist jedoch , für ein differenzierteres Herangehen an die Welt zu werben , welches die eigene Person , ihre Grenzen und tieferliegenden Motive nicht wie selbstverständlich aus der Begegnung ausschließt .
Ich möchte den Leser auch auf einen bestimmten , weit verbreiteten autoritären Sprachstil hinweisen , welcher ihm das Urteil abnimmt , ihm sagt wo es langgeht , vermeidet offene Fragen zu stellen und welcher ein wesentliches Element zur Aufrechterhaltung und Neuschaffung von Strukturen struktureller Gewalt auch bei uns ist .
Denn unsere Welt ist im Umbruch und einer der herrschenden Mythen , welcher heute Strukturen struktureller Gewalt unterstützt ist , daß jeder einzelne ohnmächtig ist und er ohnehin nichts ausrichten kann .
Die Welt ist im Umbruch , aber es gilt gerade deshalb , daran mitzuwirken , daß die globale Abhängigkeit und Kommunikation nicht zu einer Vermassung und zu einer Reduzierung des Einzelnen auf einen bloßen Konsumenten und militärstrategischen Faktor führt , sondern daß eine Erweiterung unserer Kultur , unserer Identität und unserer Gesellschaft von uns gemeinsam errungen wird .
Aber kein Frieden , der mehr ist als die bloße Abwesenheit von Krieg , wird ohne tätige Liebe erworben , ohne eine tiefe Solidarität unter den Völkern , zu deren Aufbau jeder von uns einen Stein beitragen kann .