Zur Familiendynamik des Sprachverbots bei einem Borderline-Patienten

Andreas von Wallenberg-Pachaly

Der Autor stellt in seinem Referat das Schweigen , die zentrale Kommunikationsweise eines Borderline-Patienten , als verstehbar aus der spezifischen Familiendynamik dar und untersucht deren unterschiedlichen Einfluß auf Ich- und Identitäts-Entwicklung seines Patienten und dessen autistischen Bruders . Hierzu gibt er auf der Grundlage ausführlicher anamnestischer Daten einen Überblick über die Familiendynamik des Sprachverbots und diskutiert die Bedeutung einer partiell verfügbaren konstruktiven Objektbeziehung für die Entwicklung einer Borderline-Struktur in Abgrenzung zu einer autistischen Struktur .

Die kombinierte Einzel- und Gruppentherapie stellte sich als ein wirksames therapeutisches Instrument dar , um durch eine Aufspaltung der therapeutischen Situation auch archaische Ängste therapeutisch zu handhaben , indem dem Patient ein Setting dargeboten wird , das seiner ursprünglichen Situation entspricht .

Der Autor untersucht die verschiedenen Qualitäten des Schweigens und zeigt auf , daß das Schweigen dieses Borderline-Patienten , dessen grundlegende Schwierigkeit es war , aus dem Zustand einer arretierten Symbiose herauszutreten , aus einer real erlittenen Deprivation durch eine kranke Primärgruppe resultiert und nicht aus einem internalisierten Konflikt , der zwischen verschiedenen Instanzen ausgetragen wird .

Um dem Patienten eine nachholende Ich-Entwicklung zu ermöglichen , war es nötig , ein breites Spektrum therapeutischer Situationen anzubieten , das Einzel- , Gruppen- und Milieutherapie umfaßt .

In meinem Referat möchte ich das Schweigen , die zentrale Kommunikationsweise eines Borderline-Patienten , als verstehbar aus der spezifischen Familiendynamik darstellen und deren unterschiedlichen Einfluß auf Ich- und Identitätsentwicklung meines Patienten und seines Bruders untersuchen .

Mir standen dazu Informationen aus einer einjährigen psychoanalytischen Einzel- und Gruppentherapie mit dem Patienten , mehrere anamnestische Gespräche mit ihm , ein vom Patienten ausgefüllter Fragebogen und ein von ihm geschriebener Lebenslauf sowie psychiatrische Anamnesen , neurologische und internistische Untersuchungen seines autistischen Bruders zur Verfügung .

Der 26 jährige Patient , Herr S. , suchte bei mir Therapie , nachdem seine schon drei Jahre dauernde Gruppentherapie vom Therapeuten abrupt abgebrochen und die Gruppe , „weil sie zu passiv und schweigsam war“ , wie Herr S. berichtete , aufgelöst worden war . Während dieser drei Jahre saß Herr S. meist schweigend in der Gruppe , und die oberflächliche , freundliche aggressionsabwehrende Gruppenstimmung – der Therapeut hatte alle Gruppenmitglieder geduzt – hatte ihm das Gefühl gegeben , toleriert zu werden . Auf den buchstäblichen Hinausschmiß aus der Therapie reagierte er sehr depressiv , seine eigentliche Wut darüber konnte er erst viel später wahrnehmen und ausdrücken .

Die erste Sitzung in seiner neuen Therapiegruppe erlebte er so verschlingend und zerstörend , daß er vor Angst aus dem Zimmer lief . Ich entschloß mich daraufhin , ihn in begleitende Einzeltherapie zu nehmen , da ich das Gefühl hatte , der Patient fühlte sich allein der Gruppe nicht gewachsen . Während der nächsten Monate erlebte der Patient mich in der Einzeltherapie zunehmend als freundliche Unterstützung , während er die Gruppe und besonders meine Co-Therapeutin als feindlich und sehr fordernd erlebte .

In der Gruppe bekam ich stets das Gefühl , ihn vor der Gruppe wie auch vor meiner Co-Therapeutin in Schutz nehmen zu müssen . Der Patient selbst verhielt sich während der ersten Monate der Gruppe gegenüber zunehmend autistisch , weigerte sich sein Honorar zu zahlen , Protokoll zu schreiben und sprach fast nie . Der Patient erlebte nun seine ursprüngliche Primärsituation wieder , in der er einer starren , abweisenden und zugleich sehr fordernden Mutter ausgeliefert war , die ihre Kinder nur als beinahe Tote tolerieren konnte , was er nun in der Gruppe und besonders meiner Co-Therapeutin gegenüber erlebte . Die Gruppe übernahm für ihn stellvertretend das Honorarzahlen und Protokollschreiben und akzeptierte , obwohl sie sich des aggressiven Anteils seines Verhaltens bewußt war , sein Nichtkönnen . Sie verhielt sich ihm gegenüber in der Gegenübertragung so zurückhaltend , wie er sich seiner Mutter gegenüber verhalten hatte ;die Gruppe befürchtete er könne davonlaufen , wie Herr S. es von seiner Mutter befürchtet hatte .

Während Herr S. in der Gruppe zunehmend autistischer geworden war und durch sein Schweigen und seine Weigerung zu zahlen und Protokoll zu schreiben ein aktives Nicht-Sein praktizierte , taute er in seiner Einzeltherapie zunehmend auf . Er spaltete die Gruppensituation als eine bedrohlich aggressive ab von der Zweiersituation , in der er sich in zunehmendem Maße verstanden und angenommen fühlte . Seine Sitzung begann er meist mit einem langen Schweigen , das auf der Schwelle zwischen provoziertem Kontaktabbruch und gefürchtetem Kontaktverlust lag .

Im Gegensatz zu seinem vorwiegend provozierendem Schweigen in der Gruppe überwogen hier jedoch die ängstlichen Aspekte ; jedes Wort könnte mich verletzen , er meinte , für mich ein unzumutbarer Patient zu sein , und sucht in seinem Schweigen , wobei er mich nicht anzuschauen wagte , ängstlich den Kontakt zu mir aufrecht zu erhalten . Erst wenn ich den Bann brach und ihn ansprach , konnte er über seine Unfähigkeit sprechen zu wissen , ob seine Gefühle wirklich oder eingebildet seien , über seine steten paranoiden Ängste , total angepaßt oder als total asozial abgestempelt zu werden , und über seine großen Schuldgefühle , sich von seiner Mutter und seiner Partnerin abzugrenzen . Der Patient lebte zu dieser Zeit mit seiner sich ängstlich an ihn klammernden und gleichzeitig bemutternden Partnerin zusammen , sein Studium hatte er bereits seit 5 Jahren unterbrochen , und war kurzzeitig in der Lage , Gelegenheitsarbeit auszuführen . Ansonsten lebte er von der finanziellen Unterstützung seines Vaters , trödelte und träumte jeden Tag vor sich hin und glaubte , sich so vor den vergewaltigenden Forderungen der Gesellschaft schützen zu können .

Die Mutter des Patienten , seine wichtigste Bezugsperson , war eine stetig depressive Frau , die keinerlei Freude hatte und sich , als Herr S. acht Jahre alt war , von ihrem Mann scheiden ließ . Ihre überwiegenden Lebensgefühle waren Peinlichkeit , Ängstlichkeit und Teilnahmslosigkeit . Es war ihr peinlich , ihrem Sohn , Herrn S. , ein Geburtstagsgeschenk zu überreichen . Statt dessen legte sie es auf eine Kommode , so daß er sie beiläufig fragen mußte , was das sei . Von ihren Gefühlen sprach sie nie und ihren Sohn fragte sie nie nach den seinen . Zwei Jahre vergingen , bis sie ihn einmal nach dem Verlauf seines Studiums fragte . Früher erlebte Herr S. öfters , daß sie , wenn er sie mit etwas konfrontierte , aus dem Zimmer lief . Herr S. , der bis zu seinem 8. Lebensjahr eingeengt auf der Bettritze zwischen Vater und Mutter und bis zum 16. Lebensjahr auf einer Matratze neben dem Bett seiner Mutter geschlafen hatte , verbrachte die Zeit mit seiner Mutter meist schweigend , oft vor dem Fernseher . Aber während Frau S. jegliche direkte gefühlsmäßige Aussprache durch ihren Sohn als nicht zu ertragende Zumutung erlebte , reagierte sie auf seinen Wunsch , sich , als er 22 Jahre alt war , ein eigenes Zimmer zu suchen , tief gekränkt . „Ob es ihm bei ihr nicht mehr gefiel ?“ Herr S. hatte so große Schuldgefühle sich von ihr zu trennen , daß er sie jahrelang täglich besuchte , um mit ihr schweigend vor dem Fernseher zu sitzen .

Die Unfähigkeit von Frau S. , eine direkte reale Beziehung einzugehen , drückte sich auch im Verhältnis zu ihrem Mann aus , mit dem sie nie über einen längeren Zeitraum zusammenleben konnte .

Der Vater von Herrn S. wurde , als der Patient vier Jahre alt war , längere Zeit wegen einer paranoid-schizophrenen Reaktion hospitalisiert . Seine Beziehung zu Herrn S. war geprägt sowohl von Mißtrauen – Herr S. mußte nach Besorgungen für den Vater stets die Rechnungen vorlegen , um zu belegen , daß er kein Geld einbehalten hatte – als auch von Idealisierung – er wollte , daß sein Sohn Medizin studiert , was Herr S. zwei Jahre ohne Erfolg tat . Herr S. selber hatte immer Angst vor seinem Vater , von ihm verfolgt und bestraft zu werden . Er erinnerte sich noch , sich vor ihm unter dem Küchentisch versteckt zu haben . Auf der anderen Seite fühlte er sich von ihm verlassen , da er nicht verstanden , sondern zur Erfüllung seiner grandiosen Vorstellungen mißbraucht wurde . Mehrere Jahre konnte Herr S. weder seine Therapie noch sein brachliegendes Studium gestehen , da er befürchtete , verstoßen und seiner finanziellen Unterstützung entzogen zu werden . Mit seinem antisozialen Verhalten , welches seine Unfähigkeit zu studieren , zu arbeiten oder Honorar zu bezahlen und seine anhaltende finanzielle Abhängigkeit beinhaltete , drückte er auch seine Wut seinem Vater gegenüber aus .

Obwohl beide Eltern oberflächlich gesehen in unserer Gesellschaft funktionierten , als Schreibkraft bzw. Ingenieur , wäre zu erwarten , daß Herr S. in solch einem Klima von Mißtrauen , Depression und Verlassenheit entweder schizophren oder autistisch reagiert hätte .

Eine weitere Bezugsperson war seine Großmutter väterlicherseits , eine warme , gutmütige und Herrn S. herzhaft annehmende Frau . Er lebte mit seiner Mutter bis zum 2. Lebensjahr auf dem Bauernhof dieser Großmutter und verbrachte in der folgenden Zeit jeweils mehrere Monate im Jahr bei ihr . Die Zeit dort erinnert Herr S. als die schönste Zeit seines Lebens. Er hatte diese Großmutter als natürliche Bauersfrau , die für ihn Zeit hatte und auf deren Schoß er sich setzen und reiten durfte , in Erinnerung . Bei ihr fühlte er sich dem grauen düsteren Bannkreis seiner Mutter entflohen , die Lebendigkeit und Güte dieser Frau ließen ihn aufleben . Als Herr S. 12 Jahre alt war , starb seine Großmutter . Er war damals lange Zeit sehr traurig und mußte das Schuljahr wiederholen . Heute sehnt sich Herr S. immer wieder nach einer Beziehung , wie er sie zu seiner Großmutter hatte . Jemand , der lebendig und warm ist und ihm Leben einflößt .

Im Gegensatz zu ihm stand seinem autistischen Bruder diese lebensrettende Beziehung zur Großmutter nur wenige Monate zur Verfügung . Diese einzige , vom Patienten in frühester Kindheit erlebte freundliche Beziehung zu einem Menschen ermöglichte es ihm , mich als unterstützend wahrzunehmen und ein beginnendes Vertrauen aufzubauen .

Ich werde im folgenden kurz die Lebensgeschichte des 3 Jahre älteren autistischen Bruders von Herrn S. darstellen . Sein Bruder konnte mit 2 Jahren Papa , Mama und einige andere Worte sprechen . Mit 4 Jahren sprach er besser , jedoch deutlich schlechter als altersgemäß zu erwarten gewesen wäre . Mit 6 Jahren hörte er vollkommen auf zu sprechen . Ein äußerer Anlaß wurde nicht berichtet . Seine mangelnde Sprachentwicklung ging einher mit stereotypen Bewegungen und einer Neigung zu Selbstbeschädigungen , wie etwa seinen Kopf an die Wand hauen . Auch lachte er unmotiviert , grimassierte und vermittelte psychiatrischen Beobachtern den Eindruck zu halluzinieren . Seine Hörfähigkeit war normal . Neurologisch und körperlich lag trotz intensiver Untersuchung kein Befund vor . Die Mutter lebte mit dem Bruder von Herrn S. nur ½ Jahr auf dem Bauernhof bei ihrer Schwiegermutter und siedelte dann für 2 Jahre über in eine andere Stadt , wo sie zusammen mit ihrer eigenen Mutter wohnte . Erst bei der Geburt von Herrn S. ging sie wider zu ihrer Schwiegermutter , um dann nach 2 Jahren mit ihren beiden Kindern nach München umzuziehen . Ich sehe dies im Zusammenhang mit der von R.Spitz postulierten Entwicklung von Objektbeziehungen . In der Zeit vom 6. bis 8. Lebensmonat siedelt er die Entstehung der Fähigkeit des Kindes an , zwischen unbelebter und belebter Umwelt zu unterscheiden und verbindet damit die aufkommende Besetzung des libidinösen Objektes . Ein Verlassen des Kindes durch das libidinöse Objekt in dieser Zeit verunmöglicht dem Kind eine weitere Differenzierung der Objektwelt sowie die Entstehung einer Selbstpräsentanz . Dabei möchte ich auch auf die unterstützende Funktion der Schwiegermutter für die Mutter hinweisen .

Als Frau S. mit ihren beiden Kindern nach München gezogen war , wo ihr Mann bereits längere Zeit gearbeitet hatte , siedelte auch die Mutter von Frau S. nach München über und wohnte mit der Familie zusammen . Kurz darauf hörte der Bruder von Herrn S. auf zu sprechen , und einige Monate später reagierte sein Vater schwer paranoid psychotisch .

Die Beziehung der Mutter zu ihrem autistischen Sohn wird durch folgendes Verhalten deutlich : Sie besitzt ein Transistorradio , welches sie immer mitbringt , wenn sie ihn im Heim besucht . Bei den gemeinsamen Spaziergängen schaltet sie es ein und läßt Musik spielen . Der Bruder von Herrn S. wird sehr lebendig , freut sich riesig und tanzt auch öfters . Am Ende des Besuches nimmt sie das Radio wieder mit , schaltet ihr Kind gleichsam ab . Sie ist noch nie auf den Gedanken gekommen , ihm dieses Radio zu überlassen , da er es ja doch nicht bedienen kann und wahrscheinlich nur kaputt machen würde . Frau S. nimmt das Radio jedoch nur mit , falls ihr nichtautistischer Sohn , Herr S. , sie nicht begleitet . Denn wenn er mitkommt , übernimmt er mit seinem starren Verhalten die Rolle des Kalten , Distanz-Schaffenden , der es ihr erlaubt , eine Symbiose mit seinem völlig grenzenlosen autistischen Bruder einzugehen .

Eine Rollenumkehr findet statt bei den häufigen Besuchen meines Patienten bei seiner Mutter , wenn beide schweigend vor dem Distanz schaffenden Fernseher sitzen und er nun als der Autistische die Symbiose mit seiner Mutter eingehen darf .

Im folgenden werde ich noch einmal auf die Manifestationen des Schweigens von Herrn S. im therapeutischen Prozeß zurückkommen und den kommunikativen Aspekt dieses erworbenen Defizits differenziert darstellen . Dabei beeindruckte mich am meisten , daß Herr S. durch sein Schweigen sowohl mich als auch die ganze Gruppe am Anfang der Therapie die Rolle des Kleinkindes übernehmen ließ , das nicht wagte , seine Mutter anzusprechen , sich ihr physisch zu nähern , da es befürchten mußte , sie würde es nicht aushalten und davonlaufen und auch keinerlei Forderungen an sie zu stellen , um sie nicht total zu überfordern . In dieser pervers verkehrten Wiederherstellung der Mutter-Kind-Beziehung innerhalb der psychoanalytischen Beziehung , provoziert durch sein verletztes Schweigen , wo er seine Mutter war , erlebte ich das Bedürfnis , ihn so schonend und behutsam zu behandeln , als so hilflos und schwach , verbunden mit einem Anspruch an mich , ihn zu schützen und ihn in Ruhe zu lassen . Diesem stand sein aggressiv sich verweigerndes Schweigen des Nicht-Könnens gegenüber als ein Ausdruck seiner durchgehend passiven , antisozialen Haltung . In dieser negativen Identität , (Erikson ,1956 ; Winnicott , 1958 ) , in der er sich dadurch definierte , was er nicht ist und tut – wie arbeiten , studieren und Honorar zahlen – weckte er in mir starke aggressive Gefühle , wobei ich jedoch betonen muß , daß Herr S. anfangs in keiner Weise offen aggressiv sein konnte . Neben diesen beiden Aspekten hatte sein Schweigen jedoch einen tiefgreifenden symbiotischen Charakter , wobei die Grenze zwischen ihm und mir aufgehoben und eine Einheit hergestellt war , in der er einerseits ängstlich still verharrte , um nicht verletzt zu werden , in der er sich andererseits wohlig geborgen fühlte .

Nach 7 Monaten Therapie erzählte mir Herr S. in der ersten Sitzung nach den Weihnachtsferien zögernd erstmals von seinen intensiven Todeswünschen , die er als zehnjähriger gehabt hatte . Ich spürte dabei starke Angst , die der Angst meines Patienten vor Selbstverlust entsprach , den er zugleich ersehnte und befürchtete . In seinem Wunsch zu sterben drückte sich die Sehnsucht nach symbiotischen Einssein mit der Mutter aus , das er als Kind nie erfahren hatte und für ihn nur in seinem Tod vorstellbar war . Anschließend erzählte er mir folgenden Traum :

„Er steht am Rande eines tiefen dunklen Schachtes , in den alle seine Gruppenmitglieder bereits hineingesprungen sind . Ich stehe neben ihm und ermuntere ihn auch zu springen . In dem Schacht hängt ein Seil .“ Dieser Traum drückt die tiefgreifende Ambivalenz des Patienten deutlich aus . Einerseits stehe ich neben ihm und unterstütze ihn , andererseits ermuntere ich ihn ,sich in die abweisend verschlingende Symbiose mit seiner Mutter in den tiefen , dunklen Schacht zu begeben . Diese Ambivalenz prägt auch die Beziehung des Patienten zu seiner Therapiegruppe ; einerseits möchte er zu ihr , andererseits empfindet er sie als feindlich und verschlingend .

Dieser Traum , den Herr S. als entscheidenden Wendepunkt seiner Therapie interpretierte , an dem er sich entscheiden müsse , ob er sich zu seiner Therapie bekenne oder nicht , spiegelte aber auch noch die von ihm erlebte pränatale Mangelsituation eines feindlich abweisenden Uterus , in dem er mit abgerissener Nabelschnur eingeschlossen war . Meine Angst um ihn wich , nachdem er diesen Traum erzählt hatte , einem Gefühl von Zuversicht , da er mir in seinem Traum zu verstehen gab , daß er mit meiner Unterstützung wagen konnte , die pränatale Symbiose mit der Gruppe , die er zu dieser Zeit noch als abweisenden Uterus erlebte , einzugehen (Graber ,1975) .

In den folgenden Monaten ging es in der Einzeltherapie auch immer wieder darum , ob er mir vertrauen könne oder ob ich ihn eines Tages nicht auch vor die Tür setzen würde und ob ich mich für ihn eigentlich interessiere . In dem Maß , in dem sein Vertrauen zu mir zunahm , konnte er der Gruppe und besonders meiner Co-Therapeutin gegenüber seine Angst und seine feindlichen Gefühle äußern .

Ein halbes Jahr später , nachdem er mir den Traum erzählt hatte , brachte er ein am Morgen spontan mit den Fingern gemaltes Bild in seine Einzeltherapie mit . Er hatte dieses Bild im Anschluß an zwei Tage gemalt , an denen er sich sehr traurig , depressiv und wertlos gefühlt hatte , da er von einem Mädchen , für das er sich interessiert hatte , abgewiesen worden war . In diesem Bild , das er als ein Weltall bezeichnete , in dem er raum- und zeitlos umherschwebte , drückte er seine Sehnsucht nach einer Symbiose aus , aber einer Symbiose , die er sich nun , im Gegensatz zu der im oben beschriebenen Traum , als freundliche vorstellen konnte . Hinter meiner Freude über dieses schöne Geschenk , das Herr S. mir mit diesem Bild gemacht hatte , verspürte ich aber auch den Drang , es für mich zu behalten und der Gruppe und meiner Co-Therapeutin vorzuenthalten . Durch die Analyse meiner Gegenübertragungsgefühle wurde mir jedoch bewußt , daß er sich von mir die Erlaubnis erhoffte , sich in den Schoß der Mutter Gruppe begeben zu dürfen , die für ihn allmählich schützenden und nährenden Charakter bekam . Nur wenn ich ihm erlaubte , im Gegensatz zu seiner Großmutter zur Mutter zurückzugehen und sich dort , in der Dualeinheit mit der Gruppe , als geliebtes Kind zu fühlen , würde er in der Lage sein , eine emotional korrigierende und wiedergutmachende Erfahrung zu machen . Dabei erlebte er mich als einen ruhenden , festen Pol , entsprechend dem Zentrum der Bildmitte .

In den folgenden Wochen konnte der Patient erstmals seiner Mutter offen die Meinung sagen und sich nicht nur von ihr aggressiv abgrenzen , sondern sich zugleich von seiner Freundin distanzieren , mit der er die destruktive Symbiose mit seiner Mutter wiederholt hatte . Dazu verhalf ihm auch der Einsatz in einer dreiwöchigen milieutherapeutischen Gruppe , die ihm aufgrund konkreter gemeinsamer Arbeit und der größtenteils über ein drittes Objekt stattfindenden Kommunikation unterstützte , seine Angst , verschlungen und vernichtet zu werden , zu bewältigen und in die freundliche Realität einer ihn unterstützenden Gruppe wahrzunehmen .

Ich habe in meinem Vortrag die Genese meines schweigenden Patienten aus den spezifischen Objektbeziehungen und deren Defiziten in seiner Primärgruppe dargelegt . Dabei wollte ich zeigen , daß das Schweigen dieses Borderline-Patienten , dessen grundlegende Schwierigkeit es ist , aus dem Zustand des Nicht-Seins einer arretierten Symbiose herauszutreten , seine beinahe allumfassende Existenzangst zu überwinden und mit sich selber identisch zu werden , aus einer real erlittenen Deprivation durch eine kranke Primärgruppe resultiert und nicht aus einem internalisierten Konflikt , der zwischen verschiedenen psychischen Instanzen ausgetragen wird . Die spezifische Eigenschaft von Borderline-Strukturen , bestimmte Ich-Funktionen zur Verfügung zu haben , etwa Intellektualisierung , um partiell stabile Objektbeziehungen aufzunehmen , und die darauf gründet , daß ihre primären Bezugspersonen innerhalb dieser Sphäre konfliktfrei mit ihnen kommunizieren konnten , findet sich auch bei Herrn S. wieder . Allerdings dahingehend modifiziert , daß es sich bei ihm um eine weitgehend konfliktfrei , aber vollkommen abgespalten erlebte Objektbeziehung handelt – die zu seiner Großmutter – so daß sich bei ihm die innerhalb einer Objektbeziehung erlebte Ich-Spaltung real zwischen verschiedenen Objekten ergab .

Die kombinierte Einzel- und Gruppentherapie stellte sich als ein wirksames therapeutisches Instrument dar ,um durch eine Aufspaltung der therapeutischen Situation auch die in pränatalen Phantasien ausgedrückten archaischen Ängste therapeutisch zu handhaben , indem dem Patienten ein Setting dargeboten wird , das seiner ursprünglichen Primärsituation entspricht .

Ammon hat gezeigt , daß die therapeutische Gruppe schützende Uterusfunktionen haben kann und gerade die Voraussetzung für eine therapeutische Arbeit mit archaisch Ich-Kranken bildet . „Indem sie“, wie Ammon (1974) schrieb , “ durch den Schutz , den sie bietet , die gefahrlose Öffnung der Ich-Grenzen und damit den Zugang zum Unbewußten erlaubt , macht sie es möglich , die durch pathologische Fehlentwicklungen unterbrochene Kontinuität des Lebensprozesses wieder zu finden und im Zuge der therapeutischen Arbeit neu zu gestalten .“ Das Setting der kombinierten Einzel- und Gruppentherapie ermöglichte die therapeutische Handhabung des vom Patienten bereits in frühester Lebenszeit etablierten Versuches der Abgrenzung einer Restidentität .

Neben der Beziehungslosigkeit gegenüber der Mutter , die ihn nie als Kind angenommen hatte , hatte der Patient noch für kurze Zeit die Erfahrung freundlichen Angenommenseins durch seine Großmutter erlebt .

Am Beispiel seines älteren , völlig autistischen Bruders hatte er die direkte Beziehung zu seiner Mutter jedoch verbunden mit einem totalen Identitätsverbot erlebt . Sein Bruder vegetiert bereits jahrzehntelang in völliger Sprachlosigkeit dick und unbeweglich in einer Anstalt .

Die therapeutische Auseinandersetzung des Patienten , zuerst mit seinem Erleben der Gruppe als feindlichen , ihn zerstörenden Uterus , in dem ich ihm als Unterstützung beistand und als deren Ergebnis er sich eine warme und freundliche Gruppe vorstellen konnte , zu der Kontakt aufzunehmen er aber noch immer Angst hatte , sowie die in der darauffolgenden Milieutherapie wahrgenommene freundliche Muttergruppe als einer realen Lebenssituation , ermöglichten dem Patienten , im Zuge einer nachholenden Ich-Entwicklung aus seinem Schweigen herauszutreten und damit verbunden bereits eine beginnende Bewältigung seiner archaischen Ängste vor Ich-Verlust . Um ihm dies zu ermöglichen , war es nötig gewesen , ein breites Spektrum therapeutischer Situationen anzubieten , das Einzel- , Gruppen- und Milieutherapie umfaßt .

On the Family Dynamics of the Interdiction of Language in a Borderline-Patient

Andreas von Wallenberg-Pachaly

The author discusses silence , the central mode of communication of a borderline-patient he had in therapy . He finds his silence intelligible on the base of the understanding of the patient’s specific family dynamics . The author also examines the different influence of the family dynamics on ego- and identity-development of the patient and his autistic elder brother . On the base of vaious anamnestic and therapy data he gives a detailed outline of the patient’s family dynamics .

The mother had warded off all liveliness of her children as an existentialk threat to her . She could enter into symbiosis with them only if they kept silent and were dead-like . Her extreme fear of aggressive feelings permitted no constructive carrying out of interpersonal conflicts . The patient’s father reacted several times with manifest paranoid schizophrenic reactions and was mostly suspicious towards him . Only because of the presence of the father’s mother , who warmly accepted him and his mother , and with whom he had lived together with his mother during his first couple of years the patient didn’t react autistically . To his autistic brother this supportive , accepting grandmother had not been available , and consequently he had not been able to develop the defence mechanism of splitting .

Combined individual and group psychotherapy proved to be an effective therapeutic instrument . For , by splitting the therapeutic situation the even in prenatal phantasies expressed archaic fears could be therapeutically handled , because the patient had been offered a setting corresponding to his original situation in his primary group .

In the reproduction of the language taboo during the therapeutic process three qualities of the patient’s silence became manifest . In the perversly reversed reproduction of the mother-child-relationship in the therapeutic relationship the patient was silent , injured and helpless , demanding from his therapist to protect him and to be left alone . Opposit to this was his aggressive , refusing silencs of not being able , as an expression of his negative identity , which was defined by what he was not . Above this his silence still had a profound symbiotic quality , a silence that dilluded the demarcation between him and his therapist and created a union in which he anxiously persisted , so that he would not be harmed nor left alone , but where he also felt savely sheltered .

The author outlines that the silence of this patient , whose prime difficulty was to step out of an arrested symbiosis had resulted from a relly suffered deprivation through his disturbed primary group , and not from some internalized conflict between various psychic instances .

The therapeutic confrontation and working through of his way of experiencing the therapeutic group as a hostile destructive womb , where only his individual psychotherapist supported him , resulted in perception of a warm and friendly group , with which he could take up relations , but still was afraid of . The following milieu therapy , where he experienced a friendly mother-group as a real living-situation , enabled the patient in the course of a reparative ego-development to step out of ego-loss . To make it possible for the patient to experience this ego-development , it had been necessary to offer the patient a broad scale of therapeutic situations , including individual , group and milieu therapy .

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